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Der mathematische Monatskalender: Albert Girard (1595–1632): Vater von elf Kindern

Bevor Girard Musik und Mathematik studierte, war er ein professioneller Lautenspieler.
Titelblatt von »Invention en l'Algèbre nouvelle«, Albert Girard, Amsterdam, 1629

Die ersten Jahre seines Lebens verbringt Albert Girard in Saint-Mihiel (südlich von Metz gelegen, damals zum Herzogtum Lothringen gehörend). 1610 muss seine Familie die Heimat verlassen; denn trotz der Toleranzregelungen des Edikts von Nantes (1598) wird den Mitgliedern der Reformierten Kirche in den unter französischer Herrschaft stehenden lothringischen Gebieten verboten, Gottesdienste nach ihren Riten abzuhalten.

Zuflucht finden diese Protestanten in Amsterdam, wo Albert Girard im Alter von 18 Jahren heiratet und eine Familie gründet. 1615 wird das erste Kind geboren, das elfte kommt 1632 zur Welt, wenige Wochen nach Girards frühem Tod.

In den ersten Jahren des Exils tritt Albert Girard als professioneller Lautenspieler auf. Mit dem Mathematiker Jacob Golius tauscht er sich über mathematische Probleme aus. Von 1617 an studiert er Musik und Mathematik an der Universität von Leiden; danach tritt er als Ingenieur in die Dienste von Friedrich Heinrich von Oranien ein, dem Statthalter der Vereinigten Niederlande, Sohn von Wilhelm I. und Vater von Wilhelm II. von Oranien.

Im Rahmen dieser Tätigkeit ist er vor allem mit dem Bau von Festungsanlagen seiner neuen Heimat beschäftigt, die um ihre Unabhängigkeit von Spanien kämpft. In einem Brief bestätigt der Diplomat Constantijn Huygens, Vater von Christiaan Huygens, den großen Einsatz und die Fähigkeiten des Ingenieurs.

1625 veröffentlicht der Samielois (aus Saint Mihiel stammende) Girard sein erstes Werk, die kommentierte und erweiterte Fassung der »Arithmétique« von Simon Stevin. Dabei legt er großen Wert darauf, die Originaltexte Stevins deutlich von eigenen Kommentaren zu trennen, denn er möchte »… das, was der Autor sagt, nicht mit dem vermischen, was ich schreibe«. Das Werk ergänzt er durch die Übersetzung der Bücher V und VI der »Arithmetica« des Diophant von Alexandria.

Ebenfalls im Jahr 1625 erscheint Girards französische Übersetzung eines ursprünglich in flämischer Sprache verfassten Buchs über den Festungsbau, das der Verleger Hendrik Hondius aus La Haye (den Haag) herausgegeben hatte. (Dieser war nicht verwandt mit dem Verleger Jodocus Hondius aus Gent, der 1604 die Druckplatten von Gerhard Mercators Weltatlas aufgekauft und 1606 als erweiterten Weltatlas herausgegeben hatte. Gelegentlich findet man das Porträt von Jodocus Hondius mit dem falschen Hinweis, dass es sich um ein Porträt von Albert Girard handelt.)

1626 veröffentlicht Girard eine korrigierte Fassung von Stevins Tafelwerk zur Trigonometrie, in dem er als Erster in der Geschichte der Mathematik die Abkürzungen sin, tan und sec ( = 1/sin) verwendet. Das Werk enthält auch eine Zusammenstellung von Formeln zur Berechnung von Größen in ebenen und in sphärischen Dreiecken, darunter auch den Satz, wie man den Flächeninhalt A eines von Großkreisen gebildeten sphärischen Dreiecks aus dem Kugelradius r und den Winkeln α, β und γ berechnet (Angabe im Bogenmaß):
\(A= r^2 \cdot (\alpha + \beta + \gamma – \pi) \) (Satz von Girard).

Der Faktor \(\alpha + \beta + \gamma – \pi\) (so genannter sphärischer Exzess) gibt an, um wie viel die Summe der Innenwinkel den Wert von 180 Grad, also die Winkelsumme im ebenen Dreieck, überschreitet. In seinem 1629 erschienenen Hauptwerk (siehe unten) verallgemeinert Girard die oben anegegebne Flächenformel für beliebige Kugel-Vielecke (heute unter der Bezeichnung Formel von Gauß bekannt).

Das Buch zur Trigonometrie enthält auch Ausführungen über die möglichen Formen von Vierecken, Fünfecken und Sechsecken, wenn jeweils die Seitenlängen gegeben sind: Er unterscheidet drei Formen von Vierecken, nämlich konvexe mit zwei Diagonalen, die innerhalb des Vierecks verlaufen (vergleiche Abbildung links), konkave (eingestülpte) Vierecke, bei denen eine Diagonale innerhalb und eine außerhalb verläuft (vergleiche mittlere Abbildung), sowie überschlagene Vierecke, bei denen beide Diagonalen außerhalb des Vierecks liegen (vergleiche Abbildung rechts). Bei den Fünfecken gibt er elf verschiedene Formen an, nämlich vier konvexe oder konkave, vier mit zwei Überschlagungen (die also aus zwei Teilflächen bestehen) und je eine Form, bei der durch die Überschlagungen drei, vier beziehungsweise sechs Teilflächen entstehen. Bei den Sechsecken kommt er auf 69 verschiedene Typen (tatsächlich sind es 70).

Auch betrachtet Girard in diesem Werk den Sonderfall der (konvexen) Sehnenvierecke, von denen es bei gegebenen Seitenlängen a, b, c, d nur drei Varianten hinsichtlich der Reihenfolge der Seiten gibt (abcd, abdc, acbd); die in diesen Vierecken auftretenden Diagonalen (über den Seiten a und b beziehungsweise a und c beziehungsweise a und d) bezeichnet er mit δ 1, δ 2 und δ3 und entwickelt dann für den Flächeninhalt A die bemerkenswerte Formel: \(A = \frac{\delta_1 \cdot \delta_2 \cdot \delta:3}{4r}. \)

Das 1629 erschienene, 64 Seiten umfassende Hauptwerk Girards, »Invention Nouvelle en l'Algèbre«, trägt den Begriff Invention (wörtlich: Erfindung) im Titel zu Recht, denn es enthält eine Reihe von Innovationen, darunter den Satz, den wir heute als Fundamentalsatz der Algebra bezeichnen:

  • »Toutes les équations d’algèbre reçoivent autant de solutions, que la denomination de la plus haute quantité le demonstre.« (Jede algebraische Gleichung enthält genauso viele Lösungen wie der höchste Exponent angibt.)

Im Unterschied zu seinen Vorgängern Simon Stevin und François Viète beschränkt sich Girard nicht mehr nur auf die Betrachtung von reellen Lösungen, vielmehr ist ihm klar, dass auch die »unmöglichen« Lösungen (komplexe Zahlen) mitgezählt werden müssen; dabei macht ihm das Rechnen mit diesen Zahlen keinerlei Mühe. Auch ist Girard (latinisiert: Albertus Gerardus Metensis) der Erste, der den Zusammenhang zwischen Nullstellen und Koeffizienten eines Polynoms versteht:

Beispielsweise hat die nach geraden und ungeraden Potenzen geordnete Gleichung \(x^4 – 7x^2 -24 = 4x^3 -34x\) die Lösungen -3, +1, +2, +4. Der Koeffizient von \(x^3\) ergibt sich aus der Summe der Lösungen (-3 + 1 + 2 +4 = 4), der von \(x^2\) aus der Summe der sechs Produkte von je zwei Lösungen \( (-3)\cdot 1 + (-3) \cdot 2 + (-3)\cdot 4 + 1 \cdot 2 + 1 \cdot 4 + 2 \cdot 4 = -7\), der Koeffizient von \(x\) aus der Summe der vier Produkte von je drei Lösungen \( (-3) \cdot 1 \cdot 2 + (-3) \cdot 1 \cdot 4 + (-3)\cdot 2 \cdot 4+ 1 \cdot 2 \cdot 4 = -34\) und das absolute Glied aus dem Produkt der vier Lösungen \((-3)\cdot1 \cdot 2 \cdot 4 = -24 .\)

Entsprechende Eigenschaften gelten auch, wenn Lösungen mehrfach auftreten oder komplexe Zahlen sind; er zeigt dies am Beispiel \(x^4 + 3 = 4x\) mit den Lösungen \(+1, +1, -1-\sqrt{-1}, -1 + \sqrt{-1}.\) Weiter zeigt er:

Sind A, B, C, D, ... die Koeffizienten der Potenzen von x (mit abnehmenden Exponenten), dann ist A gleich der Summe der Lösungen (siehe oben), \(A^2- 2B\) gleich der Summe der Quadrate der Lösungen, \(A^3 – 3 AB + 3C \) gleich der Summe der dritten Potenzen der Lösungen, \(A^4- 4A^2B + 4AC+ 2B^2 – 4D\) gleich der Summe der vierten Potenzen und so weiter.

Durch Girard werden neue Schreibweisen für algebraische Terme eingeführt. Er ist der Erste, der durch Setzen von runden oder eckigen Klammern zusammenhängende Terme kennzeichnet; beim Produkt von Termen lässt er den Malpunkt weg. Manche Potenzen notiert er, indem er den Exponenten in Klammern setzt und vor die Basis stellt (beispielsweise steht \(\left(\frac{3}{2}\right)49\) für \(49^{\frac{3}{2}} = 343\)); er benutzt aber auch (als Erster) das Wurzelzeichen mit hochgestelltem Wurzelexponenten (beispielsweise \(\sqrt[5]{}\)). Bei Gleichheit von Termen schreibt er »egale« (französisch: gleich); er verwendet also noch nicht das Zeichen »=« (dieses wurde zwar bereits 1557 vom walisischen Mathematiker Robert Recorde eingeführt, auf dem Kontinent ist es erst seit Leibniz üblich).

Girard stirbt früh im Alter von nur 37 Jahren, eine mittellose Witwe mit elf Kindern hinterlassend. Diese kümmert sich darum, dass posthum sein letztes Werk erscheint: eine kommentierte und erweiterte Gesamtausgabe der Werke Simon Stevins. Das Buch enthält unter anderem (zum ersten Mal in der Geschichte der Mathematik) die Rekursionsformel \(f_{n+2} = f_{n+1} + f_n\) für die heute so genannten Fibonacci-Zahlen sowie Näherungsbrüche für \(\sqrt{2}\) und \(\sqrt{10}\), die darauf schließen lassen, dass Girard unmittelbar vor der Entdeckung von deren Kettenbruchentwicklung stand.

Albert Girard (1595–1632)

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