Direkt zum Inhalt

Der Mathematische Monatskalender: Alexander Ljapunow (1857–1918): Ein Leben im Dienst der Mathematik

Insbesondere interessierten den sowjetischen Wissenschaftler, welche Form rotierende Körper annehmen können.
Alexander Ljapunow (1857–1918)

Alexander Michailowitsch Ljapunow wurde in Yaroslawl geboren, einer bedeutenden Provinzstadt zirka 300 Kilometer nordöstlich von Moskau, am oberen Lauf der Wolga gelegen. Sein Vater, der Astronom Michail Wassiljewitsch Ljapunow hatte wenige Monate zuvor die Leitung des dortigen Lyzeums übernommen – nach einer 15-jährigen Tätigkeit als Leiter des Observatoriums der Universität Kasan.

1864 gab der Vater auch das Amt als Schulleiter ab und zog mit der Familie auf ein Landgut, das seine Frau Sofia Alexandrowna geerbt hatte, und er widmete sich der Erziehung und der schulischen Ausbildung seiner drei Söhne. Alle drei zeigten besondere Begabungen – Alexanders Bruder Sergej wurde als Pianist und Komponist über die Grenzen Russlands bekannt, Boris wurde als Sprachwissenschaftler Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften.

Nach dem überraschenden Tod des Vaters zieht die Witwe mit ihren Kindern nach Nischni Nowgorod, wo ein Verwandter, R. M. Setschenow, den Unterricht für die drei Jungen übernimmt – zusätzlich zu dem für seine eigene Tochter Natalia Rafailowna. Von 1870 an besucht Alexander Ljapunow das örtliche Gymnasium (ab der dritten Klasse); 1876 absolviert er die Abschlussprüfungen mit glänzenden Noten.

Studium und Knüpfen wertvoller Kontakte

Danach nimmt er ein Studium an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg auf. Dort lernt er den wenige Tage jüngeren Andrei Andrejewitsch Markow kennen; gemeinsam besuchen sie die Mathematikvorlesungen von Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow sowie von dessen Schülern Alexander Nikolajewitsch Korkin und Igor Iwanowitsch Solotarew. Über die Pflichtveranstaltungen hinaus besucht er die Chemievorlesungen von Dmitri Iwanowitsch Mendelejew, der 1869 – zeitgleich mit dem deutschen Chemiker Lothar Meyer – das Periodensystem der chemischen Elemente entwickelt hatte.

Ljapunows Physikprofessor Dmitri Konstantinowitsch Bobylew regt ihn zu Forschungsarbeiten im Fachbereich Hydrostatik an, aus denen erste Veröffentlichungen hervorgehen: »Über das Gleichgewicht von schweren Körpern in dichten Flüssigkeiten, die sich in Behältern bestimmter Form befinden« und »Über das Potential des hydrostatischen Drucks«. Für die erstgenannte Veröffentlichung wird ihm eine Goldmedaille der Fakultät verliehen sowie der Titel eines Kandidaten der mathematischen Wissenschaften (das entspricht einem Doktorgrad im westlichen Europa).

Auf Anregung von Tschebyschow beschäftigt sich Ljapunow danach mit der Frage, welche Formen Flüssigkeiten bei hohen Rotationsgeschwindigkeiten annehmen können, was 1884 zur Abfassung seiner Magisterarbeit »Über die Stabilität von elliptischen Gleichgewichtsformen rotierender Flüssigkeiten« führt.

Im darauf folgenden Jahr übernimmt Ljapunow als Privatdozent eine Vorlesung über theoretische Mechanik an der Universität Charkow (Kinematik, Dynamik der Punktmasse, Dynamik von Punktmassen-Systemen, Theorie der Anziehungskräfte, Theorie der Deformation fester Körper und Hydrostatik). Wladimir Andrejewitsch Steklow, einer seiner ersten Studenten, 1893 sein erster Doktorand und 1902 sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Charkow, berichtet von der atemlosen Stille, die kurze Zeit nach Beginn der ljapunowschen Antrittsvorlesung eintrat:

Alexander Michailowitsch errang in einer Stunde – ohne es selbst zu wissen – den Respekt des Auditoriums mit der Gewalt eines Naturtalentes, wie man es in solcher Jugend selten gesehen hat. Von diesem Tag an betrachteten die Studenten ihn mit anderen Augen und bezeigten ihm besonderen Respekt. Oft haben sie es nicht einmal gewagt, mit ihm zu sprechen, um nicht ihr Unwissen zu zeigen.

Wissenschaftlicher Werdegang

Nach seiner Habilitation (im Russischen wird sie als Doktorprüfung bezeichnet) an der Universität Moskau im Jahr 1892 (Thema: »Eine allgemeine Aufgabe zur Theorie der Bewegung«) wird er zum ordentlichen Professor in Charkow ernannt; von da an hält er unter anderem auch Vorlesungen über die Integration von Differenzialgleichungen und über Wahrscheinlichkeitstheorie. Nach und nach übernimmt er wichtige Funktionen in der Charkower Mathematischen Gesellschaft, als Herausgeber der Berichte der Gesellschaft und zuletzt auch als deren Präsident.

1901 folgt dann der Ruf auf den seit sieben Jahren vakanten Lehrstuhl für angewandte Mathematik an der Petersburger Universität – Ljapunow wird so Nachfolger seines 1894 verstorbenen Lehrers Tschebyschow.

Sein Ansehen wächst: Nach seiner Aufnahme in die Russische Akademie der Wissenschaften und der Ehrenmitgliedschaft der Universitäten Sankt Petersburg, Charkow und Kasan, folgen im Lauf der Jahre auch Ehrungen durch die Accademia dei Lincei (Rom) und die Académie des Sciences (Paris).

Ljapunow beteiligt sich an der Herausgabe der Gesammelten Werke Leonhard Eulers (verantwortlich für die Bände 18 und 19 – von den geplanten 81 Bänden sind bisher 76 erschienen). Im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie untersucht er, unter welchen möglichst allgemeinen Bedingungen das »Gesetz der Großen Zahlen« beziehungsweise der »Zentrale Grenzwertsatz« gelten, und setzt so – zusammen mit Andrei Markow – die Arbeit des hochverehrten Lehrers Tschebyschow fort.

Rotierende Körper

Zeit seines Lebens beschäftigt sich Ljapunow vor allem aber mit der genannten Frage, die Tschebyschow seinen Schülern gestellt hatte: »Gibt es außer den Ellipsoiden noch andere Gleichgewichtsformen für rotierende Körper?« Weder Solotarew noch Sofia Kowalewskaja hatten hierfür zufrieden stellende Antworten gefunden.

Bereits in seiner Magisterarbeit war Ljapunow unter anderem auf die Untersuchungen von Colin Maclaurin über Ellipsoide eingegangen; dieser hatte 1742 aus dem Zusammenhang zwischen Rotationsgeschwindigkeit und Abplattung der Erde gefolgert, dass die Erde nicht homogen aufgebaut sein könne. 1904 verfasst er einen Beitrag zur clairautschen Gleichung, durch die dieser die Form der Erde beschrieben hatte.

Auch Carl Gustav Jakob Jacobi hatte sich mit den zu Grunde liegenden Systemen von Differenzialgleichungen beschäftigt und gezeigt, dass stabile triaxiale Ellipsoide existieren können, das sind Ellipsoide mit drei unterschiedlich langen Halbachsen (ein Beispiel hierfür ist – wie wir heute wissen – die Form des Planeten Mars).

Der geniale französische Mathematiker, Astronom und theoretische Physiker Henri Poincaré kommt bei seinen Versuchen, Näherungslösungen der betreffenden Gleichungssysteme zu finden, zu dem Ergebnis, dass auch eine birnenförmige Gestalt eine mögliche stabile Form eines Rotationskörper sein könne, woraus der britische Astronom George Darwin (Sohn des berühmten Biologen) 1898 die Theorie entwickelt, dass Erde und Mond durch Teilung einer zuvor birnenförmigen Masse entstanden sind. Ljapunow hält die poincaréschen Lösungen für falsch – seine Berechnungen führen zum Ergebnis, dass eine birnenförmige Gestalt nicht stabil sein kann, was Poincaré 1911 schließlich auch bestätigt.

Im Sommer 1917 reist Ljapunow mit seiner an Tuberkulose erkrankten Ehefrau (1886 hatte er seine Kusine Natalia Rafailowna geheiratet) zu seinem Bruder Boris nach Odessa; seine Arbeit ist durch eine zunehmend eingeschränkte Sehfähigkeit beeinträchtigt. Diese private und die sich – kriegsbedingt – verschlechternden Lebensverhältnisse führen bei ihm zu Depressionen. Im September hält er an der Universität Odessa noch eine letzte Vorlesungsreihe über die Gleichgewichtsform von Himmelskörpern. Als seine Frau am 31. Oktober stirbt, versucht er, sich zu erschießen. Drei Tage später stirbt auch er, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Datei herunterladen
PDF (389.1 KB)

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.