Der Mathematische Monatskalender: Otto Hesse, der Reisende

Ludwig Otto Hesse wurde 1811 als ältestes von fünf Kindern eines vermögenden Kaufmanns und Bierbrauers in der ostpreußischen Universitätsstadt Königsberg geboren. Bereits beim Besuch des Altstädtischen Gymnasiums zeigte er eine besondere Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften, die durch die Anstellung eines Astronomiestudenten als Hauslehrer zusätzlich gefördert wurde.
Die glückliche Kindheit und Jugend wurde jäh im Jahr 1829 beendet, als der Vater nach einem Sturz vom Pferd starb. Nach Bestehen der Reifeprüfung im April 1832 musste Otto den einjährigen Militärdienst nicht antreten, da er vom Regimentsarzt Doktor Clebsch als zu flachbrüstig eingestuft wurde, so dass er sich unmittelbar zum Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Universität Königsberg einschreiben konnte. (Übrigens: 22 Jahre später studierte Clebschs Sohn Alfred bei Otto Hesse.)
Hesse hatte das Glück, dass einer seiner Mathematikprofessoren Carl Gustav Jacob Jacobi war, zu jener Zeit wohl einer der bedeutendsten Mathematiker Deutschlands. Dieser faszinierte seine Studenten durch die Gestaltung seiner Vorlesungen, die er mit großer Klarheit vortrug und die über die bloßen Inhalte der Lehrbücher hinausgingen.
Prägend für Hesse waren auch die Astronomievorlesungen von Friedrich Wilhelm Bessel, der seit 1810 in Königsberg lehrte und der es verstand, Theorie mit Praxis zu verbinden.
Im Mai 1837 bestand Hesse das Oberlehrer-Examen, durch das er berechtigt war, in den obersten Klassen des Gymnasiums die Fächer Mathematik und Physik zu unterrichten. Nach dem Probejahr am Stadtgymnasium (vergleichbar einem Referendariat) wurde dem jungen Lehrer »pädagogischer Eifer, praktische Lehrbefähigung und wissenschaftlicher Geist« bescheinigt – mit der Prognose, »er berechtige in jeder Hinsicht zu sehr günstigen Erwartungen«.
Hesse sucht seinen Platz
Nach dieser Phase der Ausbildung ging Hesse fünf Monate lang auf Wanderschaft, über Berlin, Dresden, Salzburg, Innsbruck bis nach Venedig und wieder zurück über Straßburg und Heidelberg – die Stadt am Neckar faszinierte ihn so sehr, dass er jahrelang davon träumte, dorthin einmal zurückkehren zu können.
Von Oktober 1837 an unterrichtete er dann wöchentlich acht Stunden an einer Gewerbeschule, parallel dazu setzte er die während der Studienzeit begonnene Untersuchung von Kurven und Flächen zweiter Ordnung fort. Nach Abschluss der Arbeit wurde er im Januar 1840 promoviert. Seine Dissertation »De octo punctis intersectionis trium superficium secundi ordinis« (»Über die acht Schnittpunkte von drei Flächen zweiter Ordnung«) war dann auch Grundlage für die Habilitation im Jahr 1841. Seiner Tätigkeit als Privatdozent stellte er das Motto »Praecipuum docentis officium est docere discendi vias« (Die wichtigste Aufgabe des Lehrenden ist es, die Wege des Lernens darzulegen) voran.
1841 heiratete er Marie Sophie Emilie Dulk, Tochter eines Chemieprofessors der Königsberger Universität. In der glücklichen Ehe wurden sechs Kinder geboren; auf den erstgeborenen Sohn, der bereits im ersten Lebensjahr starb, folgten fünf Töchter.
Von 1843 an übernahm Hesse die Vorlesungen Jacobis, der aus Gesundheitsgründen seine Lehrtätigkeit in Königsberg beendet hatte. Die Einkünfte aus der Übernahme der Vorlesungen reichten nicht für den Unterhalt der jungen Familie aus, so dass Hesse gezwungen war, zusätzlich an einer Schule zu unterrichten. Daran änderte sich zunächst auch nichts, als er im Oktober 1845 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, denn dies war zwar mit der Verpflichtung zur Lehre und den zugehörigen Prüftätigkeiten verbunden, aber anfangs ohne Bezahlung. Gleichwohl kam Hesse seinen Verpflichtungen gewissenhaft nach; zu den von ihm betreuten Studenten gehörten unter anderem Gustav Robert Kirchhoff, Alfred Clebsch und Rudolf Lipschitz.
Nach vergeblichen Bewerbungen um ein Ordinariat in Dorpat (heute Tartu/Estland), die am Veto der russischen Behörden scheiterte, sowie am neu gegründeten Polytechnikum in Zürich (heute ETH) kam dann 1855 endlich die Berufung nach Halle.
Lang ersehnte Rückkehr nach Heidelberg
Hesse blieb dort aber nur ein Semester lang, denn im Laufe des Semesters trafen gleich zwei Berufungen ein: vom Gewerbeinstitut in Charlottenburg (heute Technische Hochschule Berlin) sowie von der Universität Heidelberg. Ohne Zögern nahm er den Ruf nach Heidelberg an, wo er sich fortan der kollegialen Zusammenarbeit mit Hermann Helmholtz, Robert Bunsen und seinem früheren Schüler Kirchhoff erfreute. Seine Vorlesungen waren stets gut besucht, verstand er es doch, die Studenten für die »göttliche Wissenschaft« der Mathematik zu begeistern.
Anerkennung fand er auch durch verschiedene Institutionen, unter anderem durch die Mitgliedschaften bei der Akademie der Wissenschaften von Göttingen und Berlin. Als er im Sommer 1868 gleichzeitig einen Ruf an die Universität Bonn sowie an das neu eingerichtete Polytechnikum in München (heute TU) erhielt, ging er davon aus, dass er hierdurch seine finanzielle Situation in Heidelberg verbessern könnte, was aber nicht geschah. So wechselte er für seine letzten Lebensjahre nach München, wo er sich vor allem an der Reform der Lehrerausbildung beteiligte.
In der Münchner Zeit verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand wegen eines Leberleidens zusehends; auch ein Kuraufenthalt in Karlsbad brachte keine Linderung. Er starb am 4. August 1874; die Beerdigung fand unter großer Beteiligung ehemaliger Kollegen und Studenten auf dem Friedhof in Heidelberg statt.
Als Mathematiker arbeitete Otto Hesse vor allem in den Gebieten Algebra, Analysis und analytische Geometrie. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften, in die Hesse 1868 aufgenommen wurde, veröffentlichte posthum sein Gesamtwerk, darunter zahlreiche Beiträge, die zuerst in »Crelles Journal für die reine und angewandte Mathematik« erschienen waren. Seine Lehrbücher »Vorlesungen über analytische Geometrie des Raumes« und »Vorlesungen über analytische Geometrie der geraden Linie, des Punktes und des Kreises in der Ebene« waren weit verbreitet. Die hessesche Normalenform (analog auch die einer Geraden) waren in diesen Büchern enthalten.
Zu den obligatorischen Themen des Lehrplans in der Oberstufe gehört im Rahmen der analytischen Geometrie die Behandlung von Koordinatengleichungen, die Ebenen im dreidimensionalen Raum beschreiben. Aus der Koordinatengleichung \(a x_1 + bx_2 +cx_3 = d\) einer Ebene mit Normalenvektor \(\vec{n} = (a, b, c)\) erhält man durch Umformung \(\frac{ax_1 + bx_2 + cx_3 -d}{\sqrt{a^2 +b^2 +c^2}}=0, \) die nach dem Mathematiker Ludwig Otto Hesse benannte hessesche Normalenform der Ebene.
Diese Form einer Ebenengleichung ist hilfreich, wenn der Abstand eines Punkts P von der Ebene E bestimmt werden soll.
Wie Felix Klein später einmal schrieb, hatte Hesse seine kreativsten Jahre in Königsberg, in denen er sich insbesondere mit den geometrischen Eigenschaften algebraischer Kurven und Flächen beschäftigt hatte. Die Fachwelt wurde 1844 durch zwei Publikationen in »Crelles Journal« auf den jungen Wissenschaftler aufmerksam: »Ueber die Elimination der Variablen aus drei algebraischen Gleichungen zweiten Grades mit zwei Variablen« und »Ueber Wendepunkte der Curven dritter Ordnung«.
Hesse selbst hielt übrigens seinen Beitrag »Ueber die Doppeltangenten der Curven vierter Ordnung« aus dem Jahr 1856 für seine gelungenste Veröffentlichung (Doppeltangenten berühren den Graphen an zwei Stellen).
Heute erinnern eine Reihe von Fachbegriffen an Otto Hesse, die auch international üblich sind, beispielsweise die so genannte Hesse-Matrix. Die Bezeichnung geht auf einen Vorschlag von James Joseph Sylvester zurück, der sich zusammen mit Arthur Cayley zeitgleich mit ähnlichen Fragen beschäftigte. Durch diese Matrix lässt sich das lokale Krümmungsverhalten einer zweifach differenzierbaren Funktion beschreiben. Im zweidimensionalen Fall geht es um die Darstellung der partiellen Ableitungen in Form einer Matrix. Gemäß dem Satz von Schwarz ist eine solche Matrix symmetrisch. An der zugehörigen Hesse-Determinante lässt sich unter anderem ablesen, ob ein Punkt des Graphen ein Extrempunkt oder ein Sattelpunkt ist.
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