Der Mathematische Monatskalender: Eine Kränkung, eine Idee, eine Vermutung

Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Als im Jahr 1796 der französische Mathematiker Jérôme Lalande in einem Beitrag anmerkte, dass es aktuell in ganz England keinen einzigen erstklassigen Analytiker gebe, empörte sich der englische Mathematiker Edward Waring sehr und verwies in einer Stellungnahme darauf, dass er allein in seinen »Meditationes Algebraicae« (erschienen 1762) »zwischen 300 und 400 Lehrsätze der einen oder der anderen Art« aufgestellt habe und dass sein Werk von Mathematikern des Kontinents, wie Leonhard Euler und Jean Le Rond d'Alembert, sehr gelobt worden wäre. Joseph-Louis Lagrange hätte die »Meditationes« gar als »ein Werk voller hervorragender Untersuchungen« bezeichnet.
Als Warings Stellungnahme dann endlich veröffentlicht wurde (in der Zeitschrift »The Monthly Magazine«), war Waring allerdings bereits verstorben.
Wann genau Edward Waring geboren wurde, ist nicht bekannt; wegen verschiedener Angaben wird das Jahr 1736 als das vermutliche Geburtsjahr angenommen. Seine Eltern, John und Elizabeth Waring, betrieben einen Landwirtschaftsbetrieb in Old Heath, einem Dorf in der Nähe von Shrewsbury (Grafschaft Shropshire, westliche Midlands), wo Edward auch die Schule besuchte. 1753 wurde er zum Studium am Magdalene College in Cambridge angenommen; fehlende Mittel erwarb er sich als »sizar« (Diener für andere Studenten). Von Anfang an beeindruckte er seine Lehrer mit seinen mathematischen Fähigkeiten. 1757 graduierte er als Jahrgangsbester zum Bachelor of Arts. Im darauf folgenden Jahr erfolgte seine Aufnahme als »fellow« in den Lehrkörper seines College.
Waring plante die Herausgabe eines umfassenden Werks unter dem Titel »Miscellana Analytica«. Mit dem fertig gestellten ersten Kapitel bewarb er sich um die Stelle eines Lucasian Professors am Trinity College der Universität Cambridge. Der 1663 von Henry Lucas, einem Abgeordneten des Englischen Unterhauses, gestiftete Lehrstuhl gilt auch heute noch als einer der weltweit renommiertesten Lehrstühle überhaupt. Zu Beginn hatten Isaac Barrow (1663–1669) und sein Schüler Isaac Newton (1669–1702) den Lehrstuhl inne, später unter anderem Charles Babbage (1828–1839), George Gabriel Stokes (1849–1903), Paul Dirac (1932–1969) und Stephen Hawking (1979–2009).
Obwohl Waring erst 23 Jahre alt war und noch keinen Master’s Degree vorweisen konnte, erfolgte Anfang 1760 seine Berufung als Lucasian Professor – trotz der polemischen, anonym vorgebrachten Einwände von William Powell, einem der Lehrer am St John's College. Die Professur hatte Waring dann 38 Jahre lang bis zu seinem Lebensende inne. Vor seiner Ernennung wurde ihm durch königliche Anordnung noch der fehlende Titel eines Master of Arts zuerkannt.
1762 veröffentlichte Waring das vervollständigte Werk »Miscellana Analytica«, das sich hauptsächlich mit Problemen aus der Zahlentheorie und mit der Lösung algebraischer Gleichungen beschäftigte. Der Text wurde 1770 von Vincenzo Riccati sogar ins Italienische übersetzt. 1763 erfolgte Warings Aufnahme in die Royal Society. 1767 erlangte er den akademischen Grad als Doktor der Medizin, war zeitweise tatsächlich auch als Arzt tätig; wegen seiner starken Kurzsichtigkeit musste er diese Tätigkeit jedoch bald wieder aufgeben.
Waring verfasste zahlreiche Beiträge, die in den »Philosophical Transactions« der Royal Society abgedruckt wurden. 1770 erschien sein Hauptwerk »Meditationes Algebraicae«, in dem er die in »Miscellana Analytica« behandelten Untersuchungen erweiterte und auch auf die Konvergenz von Folgen und Reihen sowie auf die Geometrie der Kegelschnitte einging. Aus den Ausführungen wird deutlich, dass er – als einer der wenigen englischen Mathematiker seiner Zeit – über die aktuell auf dem Kontinent veröffentlichten Beiträge zur Mathematik auf dem Laufenden war.
In seinen Untersuchungen zur Theorie der Gleichungen befasste er sich unter anderem mit Kreisteilungsgleichungen \(x^n -1 =0\) sowie mit dem Zusammenhang zwischen den Koeffizienten und den Wurzeln eines Polynoms (so genannten Resolventengleichungen), was als Vorstufe zur Entwicklung der Galois-Theorie angesehen werden kann.
Es hapert bei der Verständlichkeit
Als erster Mathematiker Großbritanniens betrachtete Waring partielle Fluxationsgleichungen (in der newtonschen Notation), analog zu partiellen Differenzialgleichungen der leibnizschen Schreibweise. Wie alle seine Werke litten auch diese Ausführungen unter der Tatsache, dass er mal die eine, mal die andere Schreibweise benutzte. Überhaupt waren manche seiner Formulierungen nur schwer zu verstehen, und der Aufbau seiner Texte war nicht immer systematisch.
Als Lucasian Professor war er nicht verpflichtet, Vorlesungen zu halten; möglicherweise fehlte ihm daher eine unmittelbare Rückmeldung zur Verständlichkeit seiner Darstellungen.
1772 veröffentlichte Waring die Schrift »Proprietates Algebraicarum Curvarum«, in der er unter anderem Kurven vierter Ordnung klassifizierte und hierbei teilweise Ergebnisse von Isaac Newton, James Stirling, Leonhard Euler und Gabriel Cramer verallgemeinerte.
Das Werk enthielt auch ein Kriterium, das üblicherweise dem französischen Mathematiker Jean Le Rond d'Alembert zugeordnet wird (veröffentlicht 1768):
Quotientenkriterium für unendliche Reihen
Existiert für eine Zahlenfolge \( (a_n)_{n\in\mathbb{N}} \) eine Zahl \(q<1\) mit der Eigenschaft, dass für fast alle \(n \in \mathbb{N}\) gilt \(|\frac{a_{n+1}}{a_n}| \leq q < 1,\) dann ist die zur Folge gehörende Reihe \(\sum_{k=0}^n a_k\) absolut konvergent.
In den »Meditationes« veröffentlichte Waring auch zwei Sätze, die bis dahin noch nicht in einem gedruckten Werk erschienen waren:
- Jede gerade Zahl ist darstellbar als Summe zweier Primzahlen. Das ist die Goldbach-Vermutung, die Christian Goldbach im Jahr 1742 in einem Brief an Leonhard Euler formulierte.
- Für jede Primzahl p ist die Zahl (p-1)!+1 durch p teilbar. Der Satz stammt eigentlich von Warings Schüler John Wilson, der vier Jahre nach Waring den »Mathematical Tripos« in Cambridge als Jahrgangsbester absolviert hatte, danach aber eine Laufbahn als Rechtsanwalt einschlug. Der Beweis dieser in der Fachliteratur als Satz von Wilson bezeichneten Aussage erfolgte 1773 durch Joseph-Louis Lagrange, der auch die Umkehrung des Satzes bewies, also die Aussage: »Wenn eine natürliche Zahl n die Zahl (n-1)!+1 teilt, dann ist n eine Primzahl.)
Im Werk enthalten ist außerdem ein Problem, das man auch heute noch mit dem Namen des englischen Mathematikers verbindet – es geht um die Eigenschaft, dass alle natürlichen Zahlen sich als Summe von Potenzen mit festem Exponenten darstellen lassen:
Waringsche Vermutung
Für jeden natürlichen Exponenten k>1 existiert eine natürliche Zahl g(k) mit der folgenden Eigenschaft: Jede natürliche Zahl ist darstellbar als Summe von maximal g(k)k-ten Potenzen von natürlichen Zahlen.
Angeregt wurde Waring durch den so genannten Vier-Quadrate-Satz, den Claude Gaspard Bachet de Méziriac bereits 1621 vermutet und Lagrange 1770 bewiesen hatte:
- Jede natürliche Zahl ist darstellbar als Summe von maximal vier Quadratzahlen, also: g(2)=4.
Waring untersuchte analog hierzu die Darstellung natürlicher Zahlen als Summe von dritten und vierten Potenzen; hierfür stellte er die folgenden Vermutungen auf:
- Jede natürliche Zahl ist darstellbar als Summe von maximal neun Kubikzahlen, also: g(3)=9.
- Jede natürliche Zahl ist darstellbar als Summe von maximal 19 vierten Potenzen, also: g(4)=19.
Der Beweis bezüglich der Existenz solcher Maximalzahlen g(k) erfolgte erst 1909 durch David Hilbert. Die konkrete Bestimmung der g(k) erwies sich allerdings als kompliziert.
Edmund Landau beispielsweise konnte erst 1909 nachweisen, dass es nur eine endliche Anzahl von natürlichen Zahlen gibt, für die die Maximalzahl von neun Kubikzahlen benötigt werden. Schließlich stellte sich heraus, dass nur für die Zahlen 23 und 239 tatsächlich neun Kubikzahlen notwendig sind. Bei Zahlen, die größer sind als 1,2 Millionen, kommt man stets mit fünf Kubikzahlen aus. Der Nachweis für g(4)=19 gelang erst 1986. Für k=5 schließlich zeigte Chen Jingrun 1964, dass g(5)=37.
1784 wurde Waring von der Royal Society mit der Copley-Medaille geehrt, der höchsten Auszeichnung Großbritanniens für wissenschaftliche Leistungen. Die Akademien der Wissenschaften von Göttingen und Bologna ehrten ihn durch Aufnahme als Mitglied. In seinen letzten Jahren verfiel er in eine tiefe religiöse Melancholie. Von einer heftigen Erkältung erholte er sich nicht mehr; er starb im Alter von etwa 62 Jahren.
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