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Der Mathematische Monatskalender: Imre Lakatos und die Suche nach Fehlern

Lakatos warf einen neuen Blick auf die Mathematik und prägte damit auch die Philosophie. Seine These: Das Fach entwickelt sich nicht durch Axiomatik, sondern durch Streit und Zweifel.
Auf drei bunten post-its steht die Formel 1 + 1 = 3.
Die Geschichte der Mathematik ist eine Geschichte voller intelligenter Fehler: So lautet zumindest die Auffassung von Imre Lakatos.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

Als im Jahr 1963 das »British Journal for the Philosophy of Science« einen vierteiligen Beitrag von Imre Lakatos mit dem Titel »Proofs and Refutations« (Beweise und Widerlegungen) veröffentlichte, sorgte dies in der Philosophie und Mathe­matik gleichermaßen für Aufsehen. Die Mathematik galt bis dahin im Bewusstsein der Allgemeinheit eher als Hort ewi­ger Wahrheiten und exakter Schlüsse – jetzt wurde sie von Lakatos als dynamischer, historischer und fehleranfälliger Prozess dargestellt. Seine zentrale These: Mathematik entwickelt sich nicht durch Axiomatik und durch Formalis­mus, sondern durch Streit und Zweifel, durch Gegenbei­spiele und durch kreative Anpassungen.

Lakatos' Leben war selbst mindestens so bewegt wie seine Philosophie: ein Leben zwischen Totalitarismus, Exil und intellektuellem Aufbruch.

Geboren wurde er unter dem Namen Imre Lipschitz als Kind jüdischer Eltern in Debre­cen, der zweitgrößten Stadt Ungarns (in der Nähe der rumänischen Grenze gelegen), in einer Zeit großer politischer Umbrüche. Infolge des Ersten Weltkriegs hatte das Königreich Ungarn zwei Drittel seines bisherigen Staatsgebiets verloren. Kommunisten riefen eine Räterepublik aus, nach wenigen Monaten wurde deren Regierung durch die (konser­vative) Nationalarmee gestürzt. Ungarn blieb so auch nach Beendigung der Habsburger Doppelmonarchie formal weiterhin ein Königreich, allerdings ohne König. Der autoritär regierende Reichsverweser Miklós Horthy ließ es zu, dass es zu zahlreichen Racheaktionen gegen Sozialisten, Kommunisten und Juden kam (so genannter Weißer Terror). Da an der Regierung der Räterepublik auch einige Juden beteiligt waren, wurde dies zum Anlass genommen, die Rechte der jüdischen Bürger einzuschränken, beispielsweise sie vom Staatsdienst auszuschließen oder ihnen durch einen Numerus clausus das Studium an Hochschulen sowie die Ausübung bestimmter Berufe zu erschweren. Gleichwohl konnte Imre Lipschitz ein Studium der Fächer Physik, Mathematik und Philosophie an der Universität Debrecen aufnehmen und im Jahr 1944 abschließen.

Als Verbündeter Deutschlands war Ungarn zunehmend dem Druck der deutschen Regie­rung ausgesetzt, sich auch an der »Endlösung der Judenfrage« zu beteiligen – höchste Zeit für Imre Lipschitz, seinen typisch jüdischen Familiennamen abzulegen. Anstelle von Lipschitz wählte er den Familiennamen Molnár und schloss sich einer kommunistischen Untergrundgruppe an; seine Mutter und seine Großmutter wurden nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Nach dem Krieg heiratete Imre Molnár seine Mitstreiterin im Untergrund, Éva Révész; die Ehe ging nach wenigen Monaten in die Brüche, als sich Révész einem anderen Mann zuwandte. Möglicherweise hat diese persönliche Enttäuschung dazu beigetragen, dass er später eine distanzierte Haltung gegenüber Frauen einnahm.

Ein neuer Name - zum zweiten Mal

Dafür, dass er seinen Familiennamen noch einmal änderte, nämlich zu dem in Ungarn weit verbreiteten Namen Lakatos (wörtlich: Schlosser), gab er später einen einfachen Grund an: Seine Hemden waren mit den Initialen I. L. gekennzeichnet; und da er kein Geld hatte, sich neue Kleidung zu kaufen, und er seinen alten Familiennamen nicht wieder annehmen wollte, suchte er einen neuen Namen, der zu den Initialen passte. Was wirklich den Ausschlag für seine Wahl gab, ob es der zur Arbeiterklasse gehörende Beruf eines Schlossers war oder eine Würdigung des ungarischen Premierministers Géza Lakatos, der während seiner sechswöchigen Regierungszeit von August bis September 1944 vergeblich versucht hatte, einen Separatfrieden für Ungarn zu erreichen, ließ er offen.

Nach dem Krieg arbeitete der zunächst immer noch überzeugte Kommunist Imre Laka­tos im Bildungsministerium, leitete ein Institut für Lehrerbildung und verfasste Texte zur Wissenschaftsphilosophie aus marxistischer Sicht. 1950 wurde er wegen »abweich­lerischer Tendenzen« ohne Gerichtsverfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Nach seiner Freilassung im Jahr 1953, dem Todesjahr Josef Stalins, half ihm der Mathematiker Alfréd Rényi, eine Anstellung zu finden. Unter den Büchern, die Lakatos in dieser Zeit ins Ungarische übersetzte, war George Pólyas »How to Solve it« (die deutsche Fassung wurde unter dem Titel »Schule des Denkens – vom Lösen mathematischer Probleme« veröffentlicht).

Erneute Flucht

1956 wurde der Versuch der kommunistischen Regierung Ungarns, die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt aufzukündigen und im Land ein freies parlamenta­risches System einzurichten, durch den Einmarsch sowjetischer Truppen brutal be­endet. Eine Marionettenregierung wurde eingesetzt, hunderte Personen hinge­richtet, zehntausende eingesperrt. Da auch Lakatos die Verhaftung drohte, floh er – wie mehr als 200 000 andere Bürger Ungarns – nach Österreich.

Von dort aus ging er weiter nach England, um an der University of Cambridge seine philosophischen Studien zu vertiefen und dort zu promovieren. Seine Doktorarbeit mit dem Titel »Essays in the Logic of Mathematical Discovery« wurde 1961 angenommen. Auf Vorschlag George Pólyas wählte er als Thema die Geschichte des eulerschen Polyedersatzes (die Ecken V minus die Kanten E plus die Flächen eines Polyeders ergeben stets 2).

Bereits vor seiner Promotion hatte Lakatos einen Lehrauf­trag an der London School of Economics (LSE) übernommen, den er während der nächsten 14 Jahre – bis zu seinem frühen Tod – ausführte. Seine ins Detail gehenden Vorlesungen zur Philosophie und Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften waren stets überfüllt, die Inhalte an­spruchsvoll und faszinierend, sogar für fachfremde Hörer unterhaltsam.

Eine neue Auffassung der Mathematik

Lakatos wurde vielfach aufgefordert, seinen vierteiligen Beitrag »Proofs and Refuta­tions« auch in Buchform zu veröffentlichen; er zögerte dies jedoch immer wieder hinaus, da er den Text für verbesserungswürdig hielt. So kam es, dass das Buch mit dem Unter­titel »The Logic of Mathematical Discovery« erst zwei Jahre nach seinem Tod erschien – in einer kommentierten und ergänzten Fassung seiner ehemaligen Mitarbeiter John Worrall und Elie Zahar.

In der Einleitung des Werks stellt Lakatos fest, dass mathematisches Wissen in einem Prozess entsteht, der von Irrtümern und Korrekturen geprägt ist. Dies demonstriert er am Beispiel eines fiktiven sokratischen Dialogs zwischen einem Lehrer und dessen Schülern, wie er in einem Mathematikunterricht stattfinden könnte. Im Ablauf des Gesprächs berücksichtigt Lakatos die historische Folge von Beweis­ansätzen, die immer wieder durch Gegenbeispiele widerlegt wurden.

In einem ersten Versuch, den Satz zu beweisen, wird ein Polyeder in einfachere Teile zerlegt. Das Beispiel eines Polyeders mit Loch (topologisch entspricht dies einem Torus) führt dann zur Präzision der Begriffe konvex und einfach zusammenhängend. Die Regel V - E + F = 2 gilt ebenfalls nicht für gewisse Sternpolyeder.

»Die Geschichte der Mathematik ist eine Geschichte voller intelligenter Fehler«Imre Lakatos, Mathematiker

Lakatos bezeichnet solche Beispiele als Monster, die zwar ausgeklam­mert werden müssen (»monster barring«), jedoch kein eigentliches Gegenbeispiel darstellen, sondern zur Präzision der Begriffe beitragen (»mon­ster adjustment«) und zu näheren Untersuchung anregen (»exception handling«). Auch die in den folgenden Diskussionen im fiktiven Klassenraum untersuchten Polyeder mit gemeinsamen Berührflächen beziehungsweise -kanten sowie selbstdurchdringende Körper tragen zur Präzisierung der Bedingungen bei.

Für ihn sind Beweisführungen, die sich aufgrund von Gegenbeispielen als falsch heraus­stellen, keine »Schande«, sondern haben sich – fachwissenschaftlich gesehen – stets als fruchtbar herausgestellt. Mathematische Sätze (außer solchen, die aus Axiomen her­geleitet sind) können in diesem Sinne nicht als endgültig wahr gelten, sondern man kann lediglich feststellen, dass – bisher zumindest – kein Gegenbeispiel gefunden wurde.

Dieser Prozess der »proofs and refutations« macht die Mathematik zu einer quasiempiri­schen Wissenschaft (ähnlich wie die Naturwissenschaften); er verleiht ihr also einen eher experimentellen Charakter, durch den unser Wissen vergrößert wird. Die Ge­schichte der Mathematik ist für Lakatos eine Geschichte voller intelligenter Fehler.

Die Resonanz auf Lakatos' Publikationen fiel sehr unterschiedlich aus: Während sich die Anhänger eines eher formalistischen Standpunkts nicht durch seine Thesen reprä­sentiert fühlten, empfanden Didaktiker seine Ausführungen als inspirierend für einen lebendigen Mathematikunterricht.

Trotz der Unterstützung durch seinen ehemaligen Mentor Karl Popper und ande­re prominente Persönlichkeiten wurde Lakatos die Einbürgerung im Vereinigten König­reich verweigert – der britische Inlandsgeheimdienst MI5 misstraute dem früheren Kommunisten. So blieb der international anerkannte Logikprofessor bis zu seinem Tod ein staatenloser Bürger. Lakatos gilt neben Karl Popper, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend als einer der großen Denker der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhun­derts. In Erinnerung an ihn vergibt die LSE jährlich die Lakatos Awards für her­ausragende Beiträge zur Wissenschaftsphilosophie.

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