Der Mathematische Monatskalender: Der mysteriöse Abū Kāmil

Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Über den Mathematiker Abū Kāmil Shujā 'Ibn Aslam Ibn Muhammad Ibn Shuja sind nur wenige Informationen überliefert: Man kennt nur seine ungefähren Lebensdaten, weiß aber nicht, wie sein Leben verlaufen ist. In manchen Quellen wird Abū Kāmil als al-Hāsib al-Misrī, als »Rechner aus Ägypten« bezeichnet; daher liegt es nahe, dies als das Land seiner Herkunft anzunehmen.
Um das Jahr 987 veröffentlichte der Kopist und Buchhändler Ibn an-Nadim das enzyklopädische Verzeichnis »Kitāb al-Fihrist«. Seine Absicht war es, die Titel aller bis dahin in arabischer Sprache erschienenen Bücher aufzulisten. Das Verzeichnis enthält die Titel von neun Büchern Abū Kāmils – nicht alle seine Werke sind erhalten geblieben, teilweise kennt man die Texte nur aus lateinischen und hebräischen Übersetzungen späterer Jahrhunderte.
Die Bücher Abū Kāmils hatten großen Einfluss auf nachfolgende Mathematiker, insbesondere auf Abu Bakr al-Karaji (953–1029) sowie auf Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci (1170–1250).
Am bekanntesten ist Abū Kāmils Buch über Algebra (»Kitāb fī’l-jabr wa’l muqābala«), verfasst auch als Kommentar zu Muhammad Al-Khwārizmīs Werk »Al Kitāb al-Muhtasar fī hisāb al-gabr w-al-muqābala«. Er betrachtet darin dieselben sechs Grundtypen von linearen und quadratischen Gleichungen wie sein Vorgänger, übernimmt dessen Bezeichnungen und verwendet auch dieselben Beispiele. Wie Al-Khwārizmī begründet er die Gleichungsumformungen mit Hilfe geometrischer Figuren durch Anwendung von Sätzen aus Euklids »Elementen«. Was wir heute in kurzer formaler Schreibweise notieren, wird bei Abū Kāmil durchgehend mit Worten beschrieben.
Berechnungen mit Wurzeln
Systematischer als Al-Khwārizmī behandelt Abū Kāmil Regeln für die Vorzeichen der Multiplikation (notiert in unserer Schreibweise): (+a)· (+b) = +(a·b), (-a)· (+b) = -(a·b) und (-a)· (-b) = +(a·b), die für algebraische Umformungen benötigt werden.
Abū Kāmil stellt unter Beweis, dass er keine Schwierigkeiten beim Rechnen mit Wurzeln hat. Mit Hilfe der geometrisch begründeten Beziehung \(\sqrt{a} \pm \sqrt{b} = \sqrt{a+b \pm 2 \sqrt{a\cdot b}}\) lassen sich Rechenaufgaben wie \(\sqrt{18} + \sqrt{8} = \sqrt{18+8+2\cdot\sqrt{144}} = \sqrt{50}\) bearbeiten, die wir heute eher durch teilweises Wurzelziehen lösen.
Die Formel ist auch von praktischem Nutzen, wenn man beispielsweise wissen möchte, wie viel \(\sqrt{5}\cdot\sqrt{13}\) beziehungsweise \(\sqrt{5}+\sqrt{13}\) ungefähr ist: \(\sqrt{5}\cdot\sqrt{13} = \sqrt{65} \approx 8,\) \(\sqrt{5}+\sqrt{13} \approx 6\).
Zu den drei Typen gemischt-quadratischer Gleichungen gibt Abū Kāmil nicht nur die Lösungsterme an, sondern auch jeweils das Quadrat der Lösung: Beispielsweise ergibt sich im Fall des Gleichungstyps \(x^2 + px = q\) der Term \(x^2 = \frac{p^2}{2} + q – \sqrt{p^2q+\left(\frac{p^2}{2}\right)^2}. \)
Unter den Aufgaben des Algebra-Buchs findet man wiederholt die Fragestellung, die Zahl 10 in zwei Summanden mit bestimmten Eigenschaften zu zerlegen. Während bei Al-Khwārizmī rechts stets eine natürliche Zahl steht, scheut sich Abū Kāmil nicht, dort eine irrationale Zahl zu setzen: »Die Zahl 10 ist so in zwei Summanden \(x\) und \(10-x\) zu zerlegen, dass \(\frac{x}{10-x} + \frac{10-x}{x} = \sqrt{5}.\)«
Multiplikation mit dem Hauptnenner und weitere Umformungen führen auf die quadratische Gleichung \(x^2 + \sqrt{50\ 000} – 200 = 10x\) mit den Lösungen \(x = 5\pm \sqrt{225-\sqrt{50\ 000}}\). Abū Kāmil präsentiert dann noch einen weiteren Lösungsweg: Der Ansatz \(y=\frac{10-x}{x} \) führt auf die quadratische Gleichung \(y^2 + 1 = \sqrt{5}y\) und somit zum Zwischenergebnis \(y = \sqrt{\frac{5}{4}}- \frac{1}{2}.\) Um den irrationalen Koeffizienten \(\frac{5}{4}\) in der linearen Gleichung \(10-x = (\sqrt{\frac{5}{4}}- \frac{1}{2}) \cdot x \) zu eliminieren, werden beide Seiten der Gleichung quadriert, woraus sich die quadratische Gleichung \(x^2 + 10x = 100 \) ergibt, aus der sich dann die Lösung \(x = \sqrt{125}-5\) ergibt.
Trickreich sind auch Abū Kāmils Umformungen bei der Aufgabe \( (\sqrt{\frac{x}{2}}+3) \cdot (\sqrt{\frac{x}{3}}+2) = 20,\) für die er die Lösung \( x = 15 + \sqrt{2400} – \sqrt{1449 + \sqrt{2160\ 000}}\) ermittelt.
Gleichungssysteme als Herausforderung
Während im Buch Al-Khwārizmīs 40 Aufgaben enthalten sind, umfasst Abū Kāmils Werk insgesamt 69 Aufgaben – eine der letzten lautet wie folgt:
Es geht hier also um die Lösung des Gleichungssystems \(x+y+z = 10;\) \(x^2 + y^2 = z^2;\)\(x\cdot z = y^2\) mit \(x < y < z.\)
Abū Kāmils verwendet zur Lösung die Methode des einfachen falschen Ansatzes (»regula falsi«), indem er zunächst x = 1 setzt, hieraus dann Werte für y und z herleitet und diese dann anschließend proportional korrigiert. Schließlich ergibt sich \(x = 5 – \sqrt{\sqrt{3125}-50} \) und \(z = 2,5 + \sqrt{31,25} – \sqrt{\sqrt{781,25}-12,5}\) und hieraus ein Term für y.
In einem weiteren Werk, dem »Buch der Seltenheiten in der Rechenkunst« (»Kitāb tarāif fī’l-hisāb«) beschäftigt sich Abū Kāmil mit unterbestimmten linearen Gleichungssystemen mit ganzzahligen Lösungen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Abū Kāmil das Buch verfasste, bevor eine arabische Übersetzung von Diophants »Arithmetica« erfolgt war; die von ihm verwendeten Methoden weichen von den Verfahren Diophants ab.
Die sechs Aufgaben des Buchs werden als Aufgaben über Vögel formuliert. Abū Kāmil zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten hinsichtlich der Anzahl der Lösungen:
- Kaufe 100 Vögel für insgesamt 100 Dirham: Eine Ente kostet 5 Dirham, ein Huhn 1 Dirham, 20 Sperlinge kosten zusammen 1 Dirham. Dafür lässt sich ein Gleichungssystem aufstellen und die Lösung lautet: 19 Enten, ein Huhn und 80 Sperlinge.
- Kaufe 100 Vögel für insgesamt 100 Dirham: Eine Ente kostet 2 Dirham, zwei Tauben, drei Ringeltauben, vier Lerchen und ein Huhn kosten jeweils 1 Dirham. Das Gleichungssystem mit 5 Variablen hat insgesamt 2678 Lösungen, die sich mit Wertetabellen ermitteln lassen.
Abū Kāmils »Buch über das Fünfeck und das Zehneck« enthält 20 Aufgaben. Bei den ersten vier geht es um die Bestimmung eines regelmäßigen Fünf- beziehungsweise Zehnecks bei vorgegebenem Durchmesser des In- beziehungsweise des Umkreises.
Weitere Aufgaben beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen den Radien von In- und Umkreis und Seitenlänge bei regelmäßigen Vielecken sowie mit der Bestimmung eines regelmäßigen 15-Ecks.
Bei der Aufgabe, die Seitenlänge eines gleichseitigen Dreiecks zu bestimmen, bei dem die Summe aus Flächeninhalt und Höhe gleich zehn ist, verlässt Abū Kāmil die bisherige Tradition, nur Summen von gleichdimensionalen Größen zu betrachten. Es geht hier offensichtlich nicht um einen Anwendungsbezug, sondern nur um eine eingekleidete arithmetische Aufgabenstellung.
Zu den erhaltenen Werken Abū Kāmils gehört schließlich noch das Buch »Über die Messkunst«. Da dieses Werk für Anwendungen im Alltag verfasst wurde, insbesondere für Handwerker und Landvermesser, findet man darin keine Herleitungen oder Beweise, sondern nur Formeln und Zahlenbeispiele für die Berechnung von Seiten, Flächeninhalten und Umfängen von einfachen geometrischen Figuren (Dreiecke, Vierecke, regelmäßige Vielecke, Kreis und Kreisteile) sowie von Oberflächen und Volumina verschiedener Körper.
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