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Der mathematische Monatskalender: Émilie du Châtelet (1706–1749): Eine ungewöhnlich emanzipierte Frau

Für das Zeitalter, in dem sie lebte, war sie eine ungewöhnlich emanzipierte Frau: Geboren als Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil, einzige Tochter eines Aristokraten, der am Hofe Ludwig XIV für den protokollarischen Kontakt zu den Botschaftern anderer Länder zuständig war, starb sie als Marquise du Châtelet. Sie war langjährige Geliebte und ebenbürtige Partnerin des Philosophen Voltaire und Übersetzerin der Newtonschen »Principia« ins Französische.
Emilie du Chatelet

Émilies Vater hatte dafür gesorgt, dass nicht nur seine vier Söhne eine umfassende klassische Bildung erhielten. Dank ihres Wissensdursts und ihrer außergewöhnlichen Auffassungsgabe hatte Émilie keine Schwierigkeiten, mehrere Fremdsprachen zu erlernen (Latein, Griechisch, Englisch, Italienisch); ein Bekannter der Familie weckte zusätzlich ihr Interesse an Philosophie sowie an Mathematik und Physik.

Mit 18 Jahren wird sie mit dem Marquis Florent-Claude du Chastelet-Lomont verheiratet, Gouverneur in Semur-en-Auxois (Burgund). Nach der »pflichtmäßigen« Geburt dreier Kinder nimmt sie sich wieder die Zeit, ihre Kenntnisse in Mathematik zu vertiefen. Als ihren Lehrer wählt sie sich den Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis aus, langjähriges Mitglied der Académie des Sciences.

Affäre mit ihrem Mathematiklehrer

In dieser Zeit ist unter den Mitgliedern der Académie ein heftiger Streit darüber entstanden, welche Form die Erde hat (Zuspitzung der Kugelform zu den Polen oder Abplattung). Einer der Treffpunkte der Wissenschaftler ist das Café Gradot, das jedoch nicht von Frauen betreten werden darf. Als Émilie du Châtelet der Zugang verweigert wird, kümmert sie sich nicht um die diskriminierende Konvention und lässt sich Männerkleider schneidern, in denen sie ungehindert Zugang zum Café findet. Dass sie mit ihrem Mathematiklehrer eine (kurze) Affäre hat, wird in ihren Kreisen nicht als anstößig empfunden. 1736 wird Maupertuis von der Académie mit der Leitung der berühmten Lappland-Expedition beauftragt, die den Abstand zweier Breitenkreise längs eines Längenkreises vermessen soll.

1734 trifft Émilie du Châtelet auf der Hochzeitsfeier des Duc de Richelieu (ein Großneffe von Kardinal Richelieu), mit dem sie ebenfalls eine Affäre hatte, den Philosophen Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet). Dieser steckt wegen seiner polemischen politischen Texte wieder einmal in Schwierigkeiten und sucht dringend für einige Monate einen Rückzugsort, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Die Marquise bietet ihm an, sich auf einem der Schlösser ihres Ehemanns in Cirey zu verstecken. Der Marquis hat keine Einwände, weil das Schloss nun dank Voltaires Vermögen instand gesetzt werden kann.

Dieses Vermögen verdankte Voltaire übrigens einem Denkfehler des stellvertretenden französischen Finanzministers Michel Robert Le Pelletier-Desforts, der um 1728 die Idee hatte, das Interesse an Staatsanleihen dadurch zu erhöhen, dass jeder neue Zeichner einer solchen Anleihe preiswert ein Lotterielos kaufen konnte. Ein Bekannter von Voltaire, der Mathematiker Charles Marie de la Condamine hatte überlegt, dass man durch den Kauf von vielen kleinen Anleihen auch viele Lose erwerben könnte, die – wenn der Plan funktionierte – die Gewinnchancen erhöhten. Der redegewandte Voltaire organisierte den systematischen Ankauf der Anleihen, und das Vermögen der beiden wuchs, bis Voltaire selbst durch öffentliche spöttische Kommentare über den Minister der Aktion ein Ende setzte. Den vom Minister angestrengten Prozess gewann Voltaire, weil er nichts Ungesetzliches getan hatte. De la Condamine wird 1736 mit der Leitung der Meridien-Expedition nach Südamerika beauftragt.

In den folgenden 15 Jahren leben Voltaire und Émilie du Châtelet zusammen auf Schloss Cirey, glücklich und unbeschwert. Gemeinsam diskutieren sie über philosophische Themen und führen physikalische Experimente durch. 1737 beteiligen sich beide mit eigenen Abhandlungen am alljährlich ausgeschriebenen Wettbewerb der Pariser Académie zum Thema »La nature et la propagation du feu« (die Natur des Feuers und seine Ausbreitung). Den Wettbewerb gewinnt zwar Leonhard Euler (insgesamt gewinnt er zwölfmal die jährliche Ausschreibung), aber die Académie lässt auch Émilie du Châtelets Beitrag drucken und veröffentlichen.

Falscher Plagiatsvorwurf

1738 erscheint Voltaires Buch »Eléments de la philosophie de Newton«. Im Vorwort schreibt er, dass dieses für die Allgemeinheit verfasste Werk nicht ohne die Mitwirkung von Émilie du Châtelet zustande gekommen wäre. 1740 erscheint ihr Werk »Institutions de physique«, eine philosopische Auseinandersetzung mit den Ideen von Descartes, Newton und Leibniz zu Themen wie dem freien Willen und der Bedeutung der Allmacht Gottes sowie über Raum und Materie. Nach der Veröffentlichung wird sie von Samuel König, einem in Paris lebenden deutschen Mathematiker, zu unrecht des Plagiats bezichtigt. Seinen Vorwurf begründet König mit der Tatsache, er habe ihr einige Monate lang Unterricht über die Leibnizsche Philosophie gegeben.

1745 beginnt du Châtelet dann mit der Arbeit an ihrem Hauptwerk, der Übersetzung von Newtons »Philosophiae naturalis principia mathematica« aus dem Lateinischen ins Französische (»Principes mathématiques de la philosophie naturelle«).

Émilie du Châtelet beschränkt sich dabei nicht auf das bloße Übersetzen der dritten Auflage des Werks von 1726, sondern ergänzt die Stellen, an denen Newton sich ihrer Meinung nach zu kurz gefasst hat. Ihr besonderer Verdienst liegt aber in der Tatsache, dass sie die von Newton verwendeten Schreibweisen durch die auf dem Kontinent üblichen Notationen von Gottfried Wilhelm Leibniz ersetzt.

Während der Bearbeitung lässt sich du Châtelet von Alexis Claude Clairaut beraten, einem der führenden Mathematiker und Astronomen Frankreichs. Dieser war bereits im Alter von 18 Jahren als Mitglied in die Académie aufgenommen worden, auch hatte er an der Lappland-Expedition teilgenommen. Als Astronom steht dieser mit Jean Le Rond d'Alembert und Leonhard Euler im Wettstreit bezüglich der Lösung des so genannten Drei-Körper-Problems. 1759 sagt Clairaut den korrekten Zeitpunkt der Rückkehr des Halleyschen Kometen voraus und schließt aus den Abweichungen auf die Existenz eines weiteren Planeten (Uranus, 1781 von Wilhelm Herrschel entdeckt).

Ungeplante Schwangerschaft

Im Alter von 42 Jahren wird Émilie du Châtelet noch einmal schwanger – nach einer Affäre mit dem Dichter Jean-François de Saint-Lambert. Ihr Ehemann schöpft zwar Verdacht, dass er nicht der Vater des Kindes ist, aber Voltaire kann ihm diesen Gedanken ausreden. Sie ahnt, dass diese späte Schwangerschaft lebensgefährlich für sie werden kann, und arbeitet unermüdlich, um die Kommentare zum Newtonschen Werk zu vollenden. Tatsächlich stirbt sie sechs Tage nach der Geburt ihrer Tochter in Lunéville (Lothringen); das Neugeborene überlebt nur einige Monate.

Sieben Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht Clairaut ihr Werk, ergänzt durch einige noch fehlende Kommentare und durch ein Vorwort Voltaires, in dem dieser seine tiefe Bewunderung für die einzigartige Frau zum Ausdruck bringt. Erst nach dem Tod seiner (ehemaligen) Geliebten nimmt Voltaire eine schon lange Zeit zuvor ausgesprochene Einladung des preußischen Königs Friedrich II (der Große) an, als gut bezahlter »Kammerherr« an den Hof im Schloß Sanssouci zu kommen. Émilie du Châtelets kommentierte Übersetzung des Newtonschen Werks trägt mit dazu bei, dass auch auf dem Kontinent dessen epochale Bedeutung erkannt wird.

Was ihre Rolle in der Wissenschaftsgeschichte angeht, wurde sie lange Zeit nur als eine Frau angesehen, die einen gewissen Einfluss auf Voltaire hatte. Aus dem Folgenden wird deutlich, dass sie sich als gleichberechtigte Partnerin anerkannt fühlte: »Ich bin überzeugt, dass viele Frauen sich ihrer Talente entweder auf Grund des Fehlers in ihrer Erziehung nicht bewusst sind oder dass sie diese aus Mangel an intellektuellem Mut aufgrund von Vorurteilen begraben. Meine eigene Erfahrung bestätigt dies. Der Zufall machte mich mit Gelehrten bekannt, die mir die Hand der Freundschaft reichten,  … dann begann ich zu glauben, dass ich ein Wesen mit einem Verstand war …«

An anderer Stelle forderte sie: »Was mich betrifft, so gestehe ich, dass ich, wenn ich König wäre, … die Frauen an allen Rechten der Menschheit teilhaben lassen (würde), und vor allem an denen des Geistes … Dieses neue Bildungssystem, das ich vorschlage, wäre in jeder Hinsicht vorteilhaft für die menschliche Spezies. Die Frauen wären wertvollere Wesen, die Männer würden dadurch ein neues Vorbild zur Nachahmung erhalten, und unser sozialer Austausch, der den Verstand der Frauen in der Vergangenheit allzu oft geschwächt und eingeengt hat, würde jetzt nur noch dazu dienen, ihr Wissen zu erweitern.

Emile du Chatelet

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