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Tonzylinder aus Babylon: Hat Kyros II. wirklich die Menschenrechte erfunden?

In Keilschrift steht auf einem Tonzylinder im British Museum, wie Kyros II. im Jahr 539 v. Chr. Babylon erobert hat. Gut 2500 Jahre später sind nicht wenige überzeugt, der Gründer des Perserreichs habe damit die erste Erklärung der Menschenrechte vorgelegt.
Eine antike, zylindrische Tonrolle mit eingravierten Keilschriftzeichen, die auf einem dunklen Hintergrund liegt. Die Rolle ist leicht beschädigt, was auf ihr Alter hinweist. Die Beleuchtung hebt die Textur und die Details der Inschriften hervor.
Der Kyros-Zylinder im British Museum kam bei Grabungen 1879 in Babylon ans Licht. Das Objekt aus gebranntem Ton ist nicht vollständig erhalten. Von der Textfläche, die rund um den Zylinder läuft, ist ungefähr ein Viertel verloren.

Als Kyros der Große in einem feierlichen Triumphzug 539 v. Chr. in Babylon einzog, hatte er erreicht, was vor ihm keinem Herrscher gelungen war: Er hatte ein gigantisches Weltreich geschaffen. Das Land des Perserkönigs reichte nun von Zentralasien bis an die Ostküste des Mittelmeers. Innerhalb eines Jahrzehnts besiegte er die Meder, schlug den Lyderkönig Krösus und verleibte sich schließlich das Neubabylonische Reich ein. Mit der Eroberung Babylons war ihm ein Coup gelungen: Die mesopotamische Metropole am Euphrat war ihm kampflos in die Hände gefallen.

Was vor mehr als 2500 Jahren in Babylon geschah, ist schriftlich überliefert. Auf einer mit Keilschrift beschriebenen Tontrommel: dem sogenannten Kyros-Zylinder, der in etwa so groß ist wie ein kleiner Laib Brot. 1879 kam er bei Grabungen in Babylon im heutigen Irak ans Licht und ist seither im British Museum in London ausgestellt. Er ähnelt zahlreichen anderen Tonzylindern, die in den Fundamenten mesopotamischer Bauten als Opfergaben schlummerten. Bevor diese Objekte in die Erde gelangten, fertigten Schreiber Abschriften an – das gilt auch für den Kyros-Zylinder, wie Fragmente von Keilschrifttafeln belegen.

Der böse König von Babylon

Was steht in dem Text, der in 45 Keilschriftzeilen quer über das massive Stück Ton verläuft? Der Anfang handelt vom damaligen König von Babylon, Nabonid. Dieser habe Untaten verübt – gegen sein Volk und den höchsten Gott Marduk, der im legendären Stufenturm zu Babel verehrt wurde. Dann heißt es, Marduk habe Kyros als Retter Babylons ausgewählt, den Perser als neuen König in die Stadt geführt und ihm Nabonid ausgeliefert: »Marduk, der große Herr, der sich um sein Volk kümmert, sah mit Freude die guten Taten [von Kyros] und sein rechtschaffenes Herz«, heißt es auf dem Zylinder.

»Ich habe alle ihre Völker gesammelt und sie in ihre Siedlungen heimgebracht«Kyros II. auf dem Kyros-Zylinder, um 539 v. Chr.

Anschließend spricht Kyros selbst: Er proklamiert sich als »König des Weltreichs« und empfängt Tribute. Sodann macht der Perser all das Unrecht, das die vergangenen Fürsten Babylons begangen hatten, ungeschehen. Sie hätten Götterbilder aus den Tempeln anderer Städte geraubt, deren Bevölkerungen an den Euphrat verschleppt. Doch Kyros habe sie alle wieder in ihre Heimat entlassen und die Kultstatuen an ihren Platz gebracht. Zuletzt erhöht Kyros die Opfergaben für Marduks Stufentempel und lässt Babylons Stadtmauer restaurieren.

Seit seiner Entdeckung haben sich zahlreiche Expertinnen und Experten mit dem Kyros-Zylinder befasst. Inzwischen entspinnt sich um den Inhalt ein feinmaschiges Netz voller Interpretationen, das Babylon mit dem Iran der Moderne, dem alten Israel und sogar mit der UNO in New York verknüpft.

Kyros, der Messias der Judäer

Die Verbindung nach Israel greift eine wichtige Episode der jüdischen Geschichte auf: das Babylonische Exil. Nebukadnezar II. hatte 597 v. Chr. das Königreich Juda erobert und einen Teil von dessen Bevölkerung – wie auch solche anderer Länder – nach Babylon überführt. Als Kyros die Stadt einnahm, schickte er die Judäer wieder heim. So berichtet es das Alte Testament, in dem Kyros als »Gesalbter«, als Messias, gelobt wird.

Auf dem Kyros-Zylinder sind die jüdischen Exilanten nicht erwähnt, sondern ausschließlich solche aus Ortschaften in Mesopotamien, wie der Assyriologe Irving Finkel vom British Museum in dem Sammelband »The Cyrus Cylinder« anmerkt. Zudem bezieht sich nur ein Satz im Zylindertext auf die Heimführung von Menschen in Mesopotamien: »Ich habe alle ihre Völker gesammelt und sie in ihre Siedlungen heimgebracht.«

Kyros-Grab | Im Oktober 1971 feierte der Schah 2500 Jahre iranische Monarchie. Um an den Gründer des altpersischen Reichs Kyros II. zu erinnern, ließ er an dessen Grab in Pasargadae Kränze niederlegen.

Doch in den 1960er Jahren befeuerten der Kyros-Zylinder und die Bibelstellen eine neue Auslegung der damaligen Geschehnisse – zum Zweck staatlicher Propaganda. Der letzte Schah von Persien, Mohammad Reza Pahlavi (1919–1980), pries Kyros als gnadenvollen Herrscher, der die Juden aus dem Exil befreit hatte. Überdies liegt laut Pahlavi mit dem Kyros-Zylinder ein Vorläufer der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor. Im Ausland befürworteten nicht wenige diese Deutung von Kyros als antikem Friedensfürst, darunter der erste Ministerpräsident Israels David Ben-Gurion (1886–1973), wie der Vorderasiatische Archäologe John Curtis im genannten Sammelband berichtet.

Der Schah hatte dafür handfeste politische Gründe. Zu jener Zeit waren die Vorbereitungen für die 2500-Jahr-Feier der iranischen Monarchie in vollem Gange. Und kein Geringerer als Kyros der Große galt als Urvater dieses Reichs. Der Schah inszenierte sich als Nachfolger der alten Perserkönige und machte den Zylinder zum offiziellen Symbol der Feierlichkeiten.

Ein Bewusstsein für menschenwürdiges Handeln?

Den Zylinder als Menschenrechtserklärung zu titulieren, fällt den allermeisten Fachleuten nachvollziehbarerweise schwer. Dennoch deuten ihn manche so, als habe es »ein gewisses Bewusstsein gegeben, dass eine menschenwürdige Behandlung der Menschen nach ihren ›natürlichen Rechten‹ der richtige Weg war«, meint der Archäologe Shahrokh Razmjou von der Universität Teheran in Finkels Sammelband. Das umfasse auch ein Bewusstsein für Gewaltlosigkeit, den Schutz von Menschen und ihrer persönlichen und religiösen Freiheit. Eine frappante Vorstellung von einem Herrscher, der zuvor mit seinem Heer andere Völker mit Krieg überzogen und unterworfen hatte.

Eine andere Sicht der Dinge vertritt Hanspeter Schaudig von der Universität Heidelberg. Die damaligen Geschehnisse seien auf dem Zylinder mitnichten als nüchterne Tatsachengeschichte aufgezeichnet worden. Es ist die kunstvolle Sprache und Schrift babylonischer Gelehrter, »eine raffinierte Literatur«, schreibt der Assyriologe in dem Buch »Cyrus the Great – Life and Lore«. Schaudig identifizierte im Keilschrifttext Zitate aus älteren Schriften wie dem babylonischen Schöpfungsmythos und Chroniken. So entspricht das Bild vom »rechtschaffenen Kyros« einem bekannten Motiv in älteren Texten. Und ebenso existierte bereits das Narrativ eines Königs, der die Babylonier unterdrückte und von »feindlichen Horden« unter Führung von Marduk bestraft wurde – genau wie Kyros mit des Gottes Hilfe Babylon einnehmen konnte.

Streicht man die hochtrabenden Floskeln, ergibt sich ein Szenario, wie die Stadt am Euphrat Kyros in die Hände gefallen sein könnte: Womöglich nutzte er einen Zwist zwischen Nabonid und der Priesterschaft des Marduk zu seinen Gunsten. Es ist bekannt, dass Nabonid der Stadt und ihrer Hauptgottheit den Rücken gekehrt hatte. Um ihrem drohenden Machtverlust zuvorzukommen, verbündeten sich die Marduk-Priester mit Kyros. Sie öffneten dem Fremdherrscher die Tore und begrüßten ihn als neuen König. Nabonid hatte dem Perser wohl nichts entgegenzusetzen, der ihn begnadigte und ins Exil schickte. Das entspreche übrigens auch dem gnadenvollen Handeln früherer mesopotamischer Herrscher, erklärt Schaudig.

Und die Mär vom Verfechter der Menschenrechte, die der Schah von Persien in die Welt gesetzt hat? Sie lebt noch. Ein Replikat des Zylinders ist im UNO-Hauptquartier in New York ausgestellt. Der Schah hatte es 1971 den Vereinten Nationen geschenkt. Dort firmiert das Stück weiterhin als »antike Erklärung der Menschenrechte, die Kyros der Große vorlegte, als er Babylon einnahm«.

In den Museen der Welt schlummern unzählige Ausstellungsstücke – und jedes davon hat eine Geschichte. Was diese »Glanzstücke« erzählen, steht alle zwei Monate in »Spektrum Geschichte« und auf »Spektrum.de«.

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  • Quellen

Finkel, I. (Hg.), The Cyrus Cylinder, 2013

Schaudig, H., The Magnanimous Heart of Cyrus. In: Rahim Shayegan, M. (Hg.), Cyrus the Great, 2019

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