Der Mathematische Monatskalender: Frans van Schooten ist der wahre Erfinder des Koordinatensystems

Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
»If I have seen further, it is by standing on shoulders of giants«, schrieb Isaac Newton im Jahr 1676 in einem Brief an Robert Hooke. Diese Metapher von »Zwergen auf den Schultern von Riesen« wurde im 12. Jahrhundert vermutlich durch den Philosophen Bernhard von Chartres geprägt. Seitdem wurde sie immer wieder von Gelehrten verwendet, die in aller Bescheidenheit zum Ausdruck bringen wollten, wie sehr sie von den Vorleistungen ihrer Vorgänger profitiert haben. Einer dieser Riesen, auf dessen Schultern der geniale Isaac Newton stand, war der niederländische Mathematiker Frans van Schooten (Junior).
Dessen Großvater gehörte zu den calvinistischen Protestanten, die wegen der drohenden Verfolgung durch die Inquisition vor den spanischen Truppen aus Westflandern geflüchtet waren und sich in der Universitätsstadt Leiden niedergelassen hatten.
Prinz Mauritz von Nassau, der zweitälteste Sohn Wilhelm von Oraniens und dessen Nachfolger als Statthalter von Holland und Zeeland, hatte um das Jahr 1600 seinen Freund und Berater Simon Stevin mit der Gründung einer Ingenieurschule innerhalb der Universität Leiden beauftragt, damit dem neu gegründeten Staatenbund genügend viele »praktische Mathematiker« wie Vermesser, Kartenmacher, Festungsbauer und so weiter zur Verfügung stehen. Zu den ersten Dozenten der Schule gehörte auch Ludolph van Ceulen (berühmt wegen der Berechnung der Kreiszahl auf 35 Dezimalstellen). Als dieser 1610 starb, wurde sein Student Frans van Schooten (Senior) zu seinem Nachfolger bestimmt. Später war dort unter anderem auch Willebrord Snell als Lehrer und Prüfer tätig.
Frans van Schooten (Junior) wurde 1615 in Leiden geboren. Bestens vorbereitet durch seinen Vater (auch in Latein und Französisch), konnte er sich bereits im Alter von 16 Jahren an der Universität Leiden einschreiben. Zu Beginn seines Studiums hatte er bereits selbstständig Ludolph van Ceulens »Arithmetische en geometrische Fondamenten«, Michael Stifels bearbeitete Ausgabe der christoff-rudolffschen »Coss«, Albert Girards »Invention nouvelle en l'algèbre«, Stevins »Arithmetique« und Bonaventura Cavalieris Buch über »Indivisiblen« durchgearbeitet. Auch kannte er alle zum damaligen Zeitpunkt bekannten Schriften von Archimedes, Apollonius und Pappus.
Im Jahr 1635 – er war gerade einmal 20 Jahre alt – schloss Frans van Schooten das Studium der sieben »artes liberales« (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) mit dem »liberalium artium magister« ab und begann sogleich mit Lehrtätigkeiten an der Ingenieurschule.
Eine Verbindung zu Descartes
Durch die Vermittlung seines Mathematikprofessors Jacob Gool hatte Frans van Schooten bereits 1632 den im niederländischen Exil lebenden Philosophen und Mathematiker René Descartes kennengelernt – Galileis Erfahrungen mit der Inquisition hatten diesen veranlasst, seine französische Heimat zu verlassen. Als Descartes 1637 erneut nach Leiden kam, stand die Arbeit an seiner epochalen Schrift »Discours de la méthode« unmittelbar vor dem Abschluss – nur in dem zum Werk gehörenden Anhang »La Géométrie« fehlten noch Zeichnungen. Diese Grafiken wurden vom jungen van Schooten angefertigt. (Übrigens entstand um diese Zeit eines der wenigen Porträts von Descartes, das der auch künstlerisch begabte van Schooten erstellte.)
Über Descartes kam dann auch der Kontakt zu Marin Mersenne zustande, von dem van Schooten – trotz des konfessionellen Unterschieds – 1641 in Paris herzlich empfangen wurde. Dort nutzte er die Möglichkeit, Manuskripte von François Viète und von Pierre de Fermat abzuschreiben. Seine mehrmonatige Reise führte dann weiter nach England und Irland, wo er ebenfalls zahlreiche fachliche Kontakte knüpfte.
1648 erlangte die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande nach 80-jährigem Krieg endgültig ihre Unabhängigkeit von Spanien (Friedensvertrag von Münster) – ein goldenes Zeitalter der geistigen und künstlerischen Freiheit begann; die Druckereien in Leiden, Amsterdam und Utrecht produzierten unzensierte wissenschaftliche Bücher für ganz Europa. So ließ van Schooten bei Elsevier in Leiden eine kommentierte Gesamtausgabe der Schriften von François Viète drucken, an die er durch seine Kontakte zu Mersenne gelangt war. Bei seiner Bearbeitung wählte er günstigere Schreibweisen als Viète, wodurch die Texte lesbarer wurden. Für die Schriften von Fermat hingegen zeigten die Verleger kein Interesse, hatte doch der eifersüchtige Descartes zuvor dafür gesorgt, dass diese als nicht allzu bedeutend eingeschätzt wurden (was sicherlich nicht zutraf).
1645 übernahm Frans van Schooten Junior nach dem Tod seines Vaters dessen Lehrstuhl. 1649 veröffentlichte er eine lateinische Übersetzung von Descartes' »La Géométrie«. Dies geschah möglicherweise gegen dessen Willen, doch Descartes war – einer Einladung der jungen Königin Christina von Schweden folgend – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auf dem Weg nach Stockholm, wo er am 11. Februar 1650 starb.
»Van Schooten hat Descartes lesbar gemacht – und Europa das Denken mit Gleichungen gelehrt«Gottfried Wilhelm Leibniz, Mathematiker
Descartes' Originalwerk war schwierig zu verstehen, die verwendeten Begriffe waren zum Teil unglücklich gewählt; zudem war es in Französisch verfasst – zur damaligen Zeit keine allgemein verbreitete Wissenschaftssprache. Van Schooten erkannte als einer der Ersten die in »La Géométrie« enthaltene revolutionäre Einsicht: Geometrische Probleme lassen sich auf algebraische Probleme zurückführen und so durch algebraische Methoden lösen. Leibniz kommentierte dies 1676 in einem Brief: »Van Schooten hat Descartes lesbar gemacht – und Europa das Denken mit Gleichungen gelehrt.«
Descartes war allerdings nicht der Erfinder des später nach ihm benannten kartesischen Koordinatensystems. Vielmehr betrachtete er nur eine einzige Achse und eine variable Länge, die in Bezug auf diese Achse gemessen wurde. Erst van Schooten führte in seiner Übersetzung das Paar von Achsen ein, das wir heute kennen.
Zu van Schootens Schülern gehörten unter anderem Johann Hudde, Johan de Witt, Hendrik van Heuraet und Christiaan Huygens. Mit diesen führte er noch viele Jahre lang eine rege Korrespondenz. Sie berichteten ihm, an welchen Themen sie aktuell forschten und welche Entdeckungen sie gemacht hatten, und van Schooten leitete diese Informationen jeweils an die anderen weiter. Hudde beispielsweise beschäftigte sich mit Techniken zur Bestimmung von Tangenten und zum Auffinden von Maxima und Minima, Heuraet untersuchte Methoden, um die Länge von Kurven zu bestimmen.
Van Schooten kümmerte sich auch um eine zweite Auflage von Descartes' »Géométrie«; ergänzt durch Beiträge seiner Schüler erfolgte dies in zwei Bänden (1659/61). Vor allem Huddes Ausführungen trugen dazu bei, dass Newton und Leibniz die allgemeinen Prinzipien der Differenzial- und Integralrechnung entdeckten.
In der Zwischenzeit (1657) war van Schootens Hauptwerk erschienen: »Exercitationes mathematicae libri quinque«. Die fünf Bände mit jeweils über 100 Seiten umfassten die folgenden Themen: Band 1: Arithmetik und elementare Geometrie, Band 2: Konstruktionen nur mit dem Lineal (einschließlich der Möglichkeit, Markierungen auf dem Lineal vorzunehmen), Band 3: Versuch einer Rekonstruktion der Schrift »De locis planis« (ebene Örter) des Apollonius von Perge (gemäß den Beschreibungen von Pappus), Band 4: mechanisches Zeichnen von Kegelschnitten, Band 5: kombinatorische Zählverfahren.
Die von van Schooten erfundenen Parabel-, Hyperbel- und Ellipsenzirkel sollten dazu dienen, die Kegelschnitte exakt zu zeichnen (im letzten Fall als Ersatz für die in der Praxis ungenaue Gärtnerkonstruktion einer Ellipse mit zwei in den Brennpunkten F1 und F2 fixierten Pflöcken und einem Seil einer bestimmten Länge).
Auch dieses Werk ergänzte van Schooten durch den Beitrag eines seiner Schüler. Christiaan Huygens hatte ihm eine nur 14 Seiten umfassende Abhandlung mit dem Titel »Van Rekeninghen in Spelen van Geluck« zugesandt, die van Schooten ins Lateinische übersetzte und somit für die damaligen Wissenschaftler zugänglich machte: »De Ratiociniis in Ludo Aleae« erwies sich als eine der wichtigsten Schriften für die Wahrscheinlichkeitsrechnung, ein neues Teilgebiet der Mathematik.
Durch die Herausgabe des Werks von Viète, der Übersetzung und Bearbeitung der descartesschen »Géométrie« sowie seiner eigenen »Exercitationes« trug der bescheidene und kenntnisreiche Gelehrte wesentlich zum Fortschritt seiner Wissenschaft bei.
Van Schooten, der nur 45 Jahre alt wurde, heiratete im Alter von 37 Jahren die aus Meppen stammende Margaritgen Wijnants, seine Haushälterin; das Paar hatte wohl keine eigenen Kinder.
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