Attentat auf Alexey Nawalny: Fünf Antworten zu Nowitschok-Kampfstoffen
Zum zweiten mal binnen weniger Jahre sind die Nowitschok-Kampfstoffe in den Schlagzeilen. 2018 erst wurden der russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julija mit einem dieser chemischen Kampfstoffe vergiftet; nun kamen die Nervengifte aus dem sowjetischen Foliant-Programm nach Angaben der Bundesregierung auch bei der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexey Nawalny zum Einsatz. Hier erfahren Sie, was es mit den Nowitschok-Stoffen auf sich hat.
Was sind Nowitschok-Kampfstoffe?
Auf der Suche nach neuen Insektenvernichtungsmitteln entwickelte der deutsche Chemiker Gerhard Schrader im Jahr 1938 eine gelbliche, geruchlose Flüssigkeit, die man besser nicht auf Felder sprühen sollte: Methylfluorphosphonsäureisopropylester. Der später Sarin getaufte Stoff ist quasi der Urahn der in den 1970er und 1980er Jahren in der Sowjetunion entwickelten Nowitschok-Kampfstoffe – ihre wichtigsten Vertreter haben in ihrem Zentrum ebenjene Phosphor-Fluor-Bindung, die schon Sarin besaß. Zusätzlich ist bei ihnen an das zentrale Phosphoratom jedoch noch ein weiteres untypisches Atom wie Stickstoff, Selen oder Schwefel gebunden.
Fachleute vermuten, dass die giftigsten Nowitschok-Stoffe bis zu achtmal giftiger sind als das Nervengas VX – schon die Masse eines Salzkorns auf der Haut kann einen Menschen töten. Entwickelt wurden diese Stoffe allerdings nur zum Teil wegen ihrer hohen Giftigkeit. Ziel war, die Nato-Techniken zur Bekämpfung von Chemiewaffenangriffen zu umgehen: Die neuen Stoffe unterscheiden sich chemisch von den klassischen Kampfstoffen, so dass die Ausrüstung der westlichen Armeen sie nicht entdecken würde – und schlüge ein Sensor doch Alarm, ließe sich die Ursache nicht identifizieren, so dass man von einem Fehlalarm ausgehen würde.
Zusätzlich werden einige der mehr als 100 getesteten Nowitschok-Stoffe angeblich viel leichter über die Haut aufgenommen; womöglich waren sie auch darauf ausgelegt, Filter von Schutzmasken zu durchdringen. Außerdem sollten diese Stoffe einfacher zu handhaben sein als die bisherigen Substanzen, und nicht zuletzt sollten ihre Ausgangsstoffe bei den zu jener Zeit vereinbarten Kontrollen auf der Basis der Chemiewaffenkonvention nicht auffallen. Das erreicht man, indem man viele der Substanzen als binäre Wirkstoffe herstellt: Ähnlich wie Zweikomponentenkleber bestehen sie aus zwei Vorläufersubstanzen, die man erst kurz vor dem Einsatz vermischt. Diese Vorläufer sind weniger giftig und stabiler als das Endprodukt – in einigen Fällen sind diese Vorläufer gängigen Agrar- oder Industriechemikalien so ähnlich, dass sie Grenzkontrollen und dergleichen ohne Weiteres passieren.
Wie wirken Nervengase?
Die Wirkung der Nowitschok-Stoffe gleicht jenen der anderen Nervengase: Sie blockieren das Enzym Acetylcholinesterase, das den Botenstoff Acetylcholin abbaut. Dadurch sammelt sich in den Synapsen des Nervensystems und an der motorischen Endplatte, die Nervenimpulse auf die Muskeln überträgt, der Signalstoff an – das System bleibt im Erregungszustand, die Kommunikation zwischen seinen Bestandteilen ist unterbrochen. Die Vergiftung verursacht Muskelkrämpfe, starke Schmerzen und neurologische Störungen, die epileptischen Anfällen ähneln; die Opfer sterben schließlich an Atemlähmung.
In hohen Dosen verursachen die Substanzen außerdem angeblich Langzeitfolgen, die deutlich über jene klassischer Nervengase hinausgehen. Von Sarin und einigen chemisch verwandten Pestiziden weiß man, dass sie Muskelfasern rund um die motorische Endplatte absterben lassen können, so dass die Muskeln auf Dauer geschädigt werden. Zusätzlich zeigen Studien langfristige Veränderungen in der Hirnaktivität von Primaten, die Nervenkampfstoffen ausgesetzt waren, und menschliche Opfer hatten Probleme mit Gedächtnis und Konzentration, die mehrere Wochen anhielten. Untersuchungen an chemischen Verwandten solcher Nervengase zeigen außerdem, dass die Substanzklasse das Potenzial hat, irreparable Schäden an Muskeln und Nerven, Lähmungen und andere schwere Symptome zu verursachen.
Wie kann man neuartige Kampfstoffe entdecken und nachweisen?
Es gibt eine Reihe von Verfahren, chemische Kampfstoffe nachzuweisen, zum Beispiel IR-spektroskopisch oder durch enzymatische Farbreaktionen. Die Nowitschok-Verbindungen jedoch werden von solchen Detektoren meist nicht erfasst – das ist der Sinn der Sache. Deswegen dürfte die Identifizierung des genauen Wirkstoffs sehr mühselig gewesen sein. Schnell dürfte klar gewesen sein, dass es sich um einen Nervenkampfstoff handelt, die Symptome sind charakteristisch, und ob die Acetylcholinesterase des Opfers gehemmt ist, lässt sich leicht messen.
Komplizierter ist es, die genaue Struktur eines neuen Nervengifts zu identifizieren. Glücklicherweise ist der Stoff recht einfach zu finden: Wie alle Kampfstoffe dieses Typs binden die Nowitschok-Stoffe an das aktive Zentrum der Acetylcholinesterase. Nach dem Skripal-Attentat isolierten die britischen Fachleute das Enzym aus der Körperflüssigkeit der Opfer und versuchten herauszufinden, welche Struktur das Zentrum blockierte.
Dies gelang binnen weniger Tage, was dafür sprach, dass westliche Geheimdienste bereits die Strukturen der wichtigsten Stoffe dieser Substanzklasse kennen. Tatsächlich besaß die NATO schon in den 1990er Jahren Proben der Substanzen, hielt deren Existenz aber geheim. Inzwischen gelten die Strukturen der wichtigsten Nowitschok-Kampfstoffe als bekannt.
Hat man diese Information, muss man die molekularen Details nicht aufwändig entschlüsseln, sondern gleicht die Merkmale der Probe mit Referenzsubstanzen ab. Womöglich nutzten Fachleute spätestens seit 2018 die 31P-Kernresonanzspektroskopie, um die Identität der phosphorhaltigen Gifte festzustellen.
Wie lang bleibt der eingesetzte Kampfstoff gefährlich?
Von vielen anderen Eigenschaften des Stoffs erfährt man auf diese Weise allerdings nichts – etwa, wie lange sich der Kampfstoff an seinem Einsatzort hält. Vermutlich ist das selbst den Geheimdiensten nur zum Teil bekannt, denn die Bandbreite an Eigenschaften, die beeinflussen, wie lange die Gefahr anhält, ist groß. Sarin zum Beispiel ist leicht flüchtig. Es verdampft schnell, wirkt schnell und verschwindet auch schnell. Zusätzlich ist es gut wasserlöslich und zersetzt sich durch Feuchtigkeit zu ungiftigen Substanzen. VX dagegen ist eine ölige Flüssigkeit, die sich bei kühlem Klima einige Tage oder Wochen in der Umwelt hält. Entsprechend unterschiedlich können sich die eingesetzten Nowitschok-Stoffe in der Umwelt verhalten. Angeblich sind viele der Substanzen ebenfalls ölige Flüssigkeiten, einige sollen aber auch fest sein. Genau wissen das nur die Hersteller – die haben vermutlich entsprechende Versuchsreihen gemacht.
Wie behandelt man Nowitschok-Stoffe medizinisch?
Es gibt nur wenige Wirkstoffe, die bei Vergiftungen mit gängigen Nervengasen helfen; sie kommen vermutlich auch bei Nawalny zum Einsatz. Das bekannteste Gegenmittel bei einer akuten Vergiftung sind der Pflanzenstoff Atropin und seine Salze. Atropin wirkt gegen die Übermenge an Acetylcholin an den Synapsen, indem es seinerseits die Rezeptoren für diesen Stoff blockiert. Eine ähnliche Wirkung entfalten auch die Benzodiazepine wie der Angstlöser Diazepam.
Allerdings muss man Atropin und andere, ähnlich wirkende Medikamente sehr schnell nach einer Vergiftung mit einem Nervengas verabreichen, um die Effekte auf Zentralnervensystem und Gehirn unter Kontrolle zu bekommen. Zudem braucht man relativ hohe Mengen der selbst giftigen Substanz, um Nervengase zu neutralisieren; entsprechend könnten in bestimmten Situationen, wie bei einem Terrorangriff, die Reserven des Stoffs nicht ausreichen.
Zusammen mit solchen anticholinergen Wirkstoffen verabreicht man außerdem Substanzen aus der Klasse der Oxime. Das sind reaktive Chemikalien, die direkt die Wirkung des Kampfstoffs aufheben. Sie befreien die Acetylcholinesterase von den sie blockierenden Nervengasmolekülen, so dass das Enzym wieder aktiv wird und den überschüssigen Botenstoff spalten kann. Zusätzlich zu dieser medikamentösen Behandlung werden die Opfer beatmet, weil das Nervengas die Atmung aussetzen lässt. Inwieweit solche Gegenmaßnahmen bei den Nowitschok-Substanzen helfen, ist unklar. Die Skripals überlebten 2018 angeblich den Giftangriff, dafür gibt es aber keine unabhängige Bestätigung. Darüber hinaus sind diese Stoffe deutlich giftiger als ältere Kampfstoffe, so dass möglicherweise etwas an der Behauptung des Chemiewaffenexperten Wil Mirsajanow dran ist, diese Gifte seien praktisch nicht zu bekämpfen.
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