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Der Mathematische Monatskalender: George Pólya (1887–1985)

Die Geschichte des Problemlösens im Mathematikunterricht kann in zwei Epochen unterteilt werden: vor und nach Pólya.
George Pólya (1887 – 1985)

George Pólya wächst als viertes Kind von Anna Deutsch und Jakab Pólya in Budapest auf. Den Familiennamen hatte der Vater erst fünf Jahre vor der Geburt des Sohnes György angenommen, weil dieser Name eher ungarisch und weniger jüdisch klingt als der ursprüngliche Name Pollák. Dass die Eltern mit ihren drei Kindern im Jahr 1886 zum katholischen Glauben konvertieren und auch György bald nach der Geburt katholisch getauft wird, ist im Hinblick auf die angestrebte berufliche Karriere des Vaters hilfreich. Aber 1897, wenige Wochen nachdem Jakab Pólya endlich eine Stelle als Privatdozent für Wirtschaft und Statistik an der Universität von Budapest übernehmen kann, stirbt er. Die beiden älteren Schwestern Georges finden eine Anstellung in der Versicherungsfirma, in der der Vater vor seiner Dozententätigkeit als Jurist gearbeitet hatte. So kommt die Familie finanziell über die Runden.

George Pólya besucht nach der Grundschule ein Gymnasium, in dem die klassischen Sprachen Latein und Griechisch ebenso wichtig sind wie Ungarisch und Deutsch. Biologie und Literatur sind die Fächer, in denen er Bestnoten erzielt. Von einer besonderen mathematischen Begabung ist in der Schulzeit nichts zu erkennen. Dass er damals kein besonderes Interesse für Mathematik entwickelt hatte, führt er im Rückblick auf seine Schulzeit auf die Unfähigkeit seiner Mathematiklehrer zurück.

Mit 18 Jahren beginnt er – auf Drängen seiner Mutter, die eine familiäre Fortsetzung der Karriere des Vaters erhofft – ein Jura-Studium, das er bereits nach einem Semester abbricht, weil es ihn langweilt. Dann studiert er zwei Jahre lang Sprachen und erwirbt die Berechtigung, Latein und Ungarisch am Gymnasium zu unterrichten. Sein Interesse neigt sich nunmehr der Philosophie zu, aber sein Professor gibt ihm den Rat, sich zunächst mit Mathematik und Physik zu beschäftigen, um hierdurch besser auf ein Philosophie-Studium vorbereitet zu sein. Und so besucht er die Vorlesungen von Lipót Fejér und Loránd Eötvös ...

1910 folgt ein akademisches Jahr an der Universität zu Wien, 1911 wird Pólya in Budapest mit einer Arbeit über geometrische Wahrscheinlichkeiten promoviert. 1912 und 1913 verbringt er einige Zeit in Göttingen und trifft mit Constantin Carathéodory und Felix Klein zusammen; anschließend geht er nach Paris. 1914 bietet ihm die Universität Frankfurt eine Stelle an, die er zunächst auch annimmt; dann entscheidet er sich aber für eine Tätigkeit an der ETH Zürich, da er sich viel von einer Zusammenarbeit mit Adolf Hurwitz erhofft. Als dieser überraschend im Jahr 1919 stirbt, kümmert er sich um dessen wissenschaftlichen Nachlass. Bei Ausbruch des Weltkrieges besteht wegen einer alten Sportverletzung zunächst keine Gefahr der Einberufung; als sich jedoch die Lage der ungarischen Armee verschlechtert, wird auch er aufgefordert, in die Heimat zurückzukehren. Er verweigert dies und lässt sich in der Schweiz einbürgern. Wegen der Gefahr der nachträglichen Bestrafung wagt er es aber erst 1967, wieder nach Ungarn zu reisen.

Zu seinen begeisterten Hörern gehört János Neumann (John von Neumann) der einzige – wie Pólya später gesteht –, vor dem selbst er, der von allen Studenten bewunderte Dozent, "Angst" gehabt habe; es sei kaum eine Vorlesung vergangen, in der er ein Problem formuliert habe, für das sein "Student" nicht am Ende der Vorlesung eine Lösung hätte präsentieren können.

Aufsehen erregt Pólya 1921 durch seine Untersuchungsergebnisse über Irrfahrten (random walk) in \(n\)-dimensionalen Koordinatengittern: Ein Objekt wandert vom Ursprung aus in Einzelschritten der Länge 1 und dreht sich dann zufällig und gleichwahrscheinlich in eine der \(2n\) möglichen Richtungen. Pólya kann beweisen, dass für jeden im Ursprung beginnenden random walk (der Begriff geht auf Karl Pearson zurück) auf der eindimensionalen Achse und in der zweidimensionalen Ebene gilt: Irgendwann erreicht die Zufallswanderung jeden Gitterpunkt der Achse beziehungsweise der Ebene, also mit der Wahrscheinlichkeit 1; dies gilt aber nicht mehr für \(n \geq 3\).

Beeindruckend sind auch seine Untersuchungen über Ornamentgruppen der Ebene im Jahr 1924. Pólya beweist, dass es genau 17 sogenannte kristallographische Gruppen von periodischen Mustern (Parkettierungen) der Ebene gibt. Durch die zu den Gruppen gehörenden geometrischen Abbildungen werden Ornamente wieder auf sich selbst abgebildet. Beispiele hierfür sind: Translationen (Verschiebungen), Achsenspiegelungen, Drehungen um 180° (Punktspiegelung), Drehungen um 120°, um 90° oder um 60° und Kombinationen von diesen Operationen (wie zum Beispiel Schubspiegelungen). Aus der Tatsache, dass 17 solche Gruppen existieren, ergibt sich, dass 93 verschiedene Parkettierungen der Ebene möglich sind.

Maurits Cornelis Escher setzt Pólyas Ergebnisse in graphischen Arbeiten um. (Quelle: TU Freiberg)

Als erster ausländischer Stipendiat der Rockefeller-Foundation kann er 1924 an den Universitäten von Oxford und Cambridge forschen. Aus der Zusammenarbeit mit Godfrey Harold Hardy und John Edensor Littlewood entsteht ein gemeinsames Buch über Ungleichungen, das 1934 erscheint.

1925 gibt Pólya zusammen mit Gábor Szegö, den er noch aus seiner Studienzeit an der Budapester Universität kennt und der inzwischen eine Stelle als Privatdozent an der Universität Berlin hat, zwei Bände mit dem Titel Aufgaben und Lehrsätze der Analysis heraus – ein Meisterwerk, das von der Art bisher veröffentlichter Analysisbücher abweicht. Das Besondere dieser später noch mehrfach aufgelegten Bände ist, dass diese nicht nach Themen geordnet sind, sondern nach der Art und Weise der Beweisführung. Pólya erklärt später, wie er auf diesen ungewöhnlichen Ansatz gekommen ist: Die Vorgehensweise der Mathematiker war für ihn, den Spät-Berufenen, schlüssig, aber immer wieder fragte er sich: Wie sind die Mathematiker überhaupt auf die Idee gekommen, die Aussagen dieser Sätze zu entdecken?

Seine Arbeiten finden 1928 eine erste Anerkennung durch die Umwandlung seiner Stelle an der ETH in eine ordentliche Professur. 1933 erhält Pólya erneut ein Stipendium der Rockefeller-Foundation, und er verbringt einige Monate in Princeton und Stanford. Zwar kehrt er danach wieder nach Zürich zurück, jedoch veranlasst ihn die politische Lage in Europa 1940 zur Emigration in die USA, wo er 1942 auf einen Lehrstuhl an der Stanford University berufen wird. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1953 hält er – bei guter Gesundheit – Vorlesungen als Emeritus (bis ins 90. Lebensjahr). Durch seine Arbeiten gibt Pólya zahlreiche Anstöße für die Weiterentwicklung von Theorien in unterschiedlichen Bereichen der Mathematik. 1918 beispielsweise verfasst er Artikel über Reihen, Zahlentheorie, Kombinatorik und Wahlsysteme, im Jahr darauf Beiträge zu Astronomie und Wahrscheinlichkeitstheorie. Allein in den Jahren 1926 bis 1928 veröffentlicht er 31 wissenschaftliche Abhandlungen, die internationale Anerkennung finden. Die insgesamt mehr als 250 Veröffentlichungen des genialen Mathematikers geben Anregungen für weitere Forschungen in der komplexen Analysis, der mathematischen Physik, der Kombinatorik und der Wahrscheinlichkeitstheorie (von ihm stammt der Begriff Zentraler Grenzwertsatz) sowie in der Geometrie; hierdurch gehört er wohl zu den einflussreichsten Mathematikern des 20. Jahrhunderts.

Seit seiner Züricher Zeit beschäftigt sich Pólya mit der Frage, wie Mathematik unterrichtet werden soll. Die Beschäftigung mit der Heuristik ("Logik der Erfindung") und der Logik des plausiblen Schließens sollte Grundlage der Ausbildung aller Mathematiklehrer sein. Für das in deutscher Sprache verfasste Werk Schule des Denkens findet er zunächst keinen Verleger. Die englische Version How to solve it erscheint 1945 in Princeton. Nachdem die Bedeutung dieses Werks erkannt ist, wird es in 20 Sprachen übersetzt und insgesamt mehr als eine Million Mal verkauft. Im Vorwort gibt Pólya zu bedenken: Wenn (... der Mathematiklehrer ...) die ihm zur Verfügung stehende Zeit damit ausfüllt, seine Schüler in eingeübten Verfahren zu drillen, mindert er ihr Interesse und hemmt ihre geistige Entwicklung; dann nutzt er seine Chance schlecht. Aber wenn er den Wissensdrang seiner Schüler weckt, indem er ihnen Aufgaben stellt, die ihren Kenntnissen angepasst sind, und ihnen durch geschickte Fragen hilft, die Aufgaben zu lösen, so wird er den Geschmack an selbstständigem Denken in ihnen entwickeln und ihnen Wege dazu aufzeigen.

Im Buch beschreibt er ein vierstufiges Verfahren zur Lösung einer Aufgabe: die Aufgabenstellung verstehen – einen Plan zur Lösung machen – den Plan durchführen – Rückschau halten. In einem kleinen Wörterbuch der Heuristik nennt Pólya verschiedene Strategien wie Verallgemeinern und Spezialisieren, Zerlegen in Teilprobleme, Suchen nach Analogien, Vorwärts- und Rückwärtsarbeiten – alle Verfahren erläutert durch überzeugende Beispiele. Insbesondere wiederholt er immer wieder den ermutigenden Ratschlag: Wenn du die vorgegebene Aufgabe nicht lösen kannst, so versuche, zuerst eine verwandte (leichtere) Aufgabe zu lösen.

Nach zahlreichen positiven Rückmeldungen folgen in den 50er- und 60er-Jahren Mathematics and Plausible Reasoning (Mathematik und Plausibles Schließen) und Mathematical Discovery (Vom Lösen mathematischer Aufgaben), in denen er seine Vorschläge durch weitere Beispiele verdeutlicht, unter anderem indem er erläutert, wie Leonhard Euler bei einigen seiner Entdeckungen vorgegangen ist.

Auch wenn man heute die Pólya'schen Ansätze etwas weniger enthusiastisch sieht als noch vor einigen Jahrzehnten, kann man sagen, dass die Geschichte des Problemlösens im Mathematikunterricht in zwei Epochen unterteilt werden kann: die Zeit vor Pólya und die Zeit nach Pólya.

George Pólya (1887–1985)

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