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Corona-Impfstoff: Was hinter dem erneuten AstraZeneca-Stopp steckt

Nachdem neue Fälle von Hirnvenenthrombosen bekannt wurden, stoppt die Charité nun den Impfstoff bei Mitarbeiterinnen unter 55 Jahren. Was hat es mit der Nebenwirkung auf sich?
Ein Impfzentrum in Mailand, verwaltet von der Armee, ist wegen des Impf-Stopps von AstraZeneca geschlossen.

Nachdem weitere Fälle von Hirnvenenthrombosen in Deutschland bekannt wurden, verabreicht die Berliner Charité nun nach eigenen Angaben den Impfstoff vorerst nicht mehr an Frauen unter 55 Jahren. An der Klinik seien aber keine Fälle aufgetreten, dennoch werde man die endgültige Analyse abwarten, teilte die Klinik mit. Bereits am Montag hatte der Landkreis Euskirchen die gleiche Maßnahme ergriffen. Dort waren bei zwei Frauen Sinusvenenthrombosen aufgetreten, eine starb.

Wegen der gleichen Nebenwirkung hatten Deutschland und zahlreiche andere EU-Staaten Mitte Märzdie Impfungen mit dem Corona-Impfstoff AZD1222 vorübergehend ausgesetzt. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA hatte den AstraZeneca-Impfstoff geprüft und für sicher befunden.

Die EMA hatte jedoch ausdrücklich nicht ausgeschlossen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Impfung und den beobachteten Hirnvenenthrombosen gibt. Tatsächlich gehen viele Fachleute davon aus, dass es sich bei dem Immunangriff auf die Blutplättchen, der zur Sinusvenenthrombose führt, tatsächlich um eine seltene Impfreaktion handelt, die überwiegend Frauen unter 50 Jahren betrifft.

Die entscheidende Frage ist allerdings, ob diese Nebenwirkung häufig genug auftritt, um die Impfungen mit AZD1222 einzuschränken. Aus Sicht der EMA reichten die Mitte März bekannten Fälle nicht aus, um Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren von der Impfung abzuraten, jener Gruppe, aus der fast alle Betroffenen kamen. Die neuen Fälle erhöhen die Gesamtzahl auf 31 und könnten nun darauf hindeuten, dass Hirnvenenthrombosen nach der Impfung häufiger sind, als die erste Analyse nahe legte.

Was hat es mit Hirnvenenthrombosen als mögliche Nebenwirkung auf sich? Um wie Fälle geht es? Und wie geht es weiter? Das ist bislang bekannt:

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Wieso wurde die Impfung mit AstraZeneca in Deutschland gestoppt?

Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland sind bislang mit AZD1222 von AstraZeneca geimpft. am 15. März war bekannt geworden, dass sechs Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren nach der Impfung mit AstraZeneca eine Sinusvenenthrombose entwickelt hatten, ein Mann zeigte ein sehr ähnliches Krankheitsbild. Später in der Woche wurden sechs weitere ähnliche Fälle bekannt. Am 29. März Erklärte der Landkreis Euskirchen, zwei Frauen hätten dort eine Sinusvenenthrombose erlitten. Von einer Sinusvenenthrombose spricht man, wenn ein Blutgerinnsel eine Hirnvene verschließt. Zusätzlich hatten die Betroffenen weniger der für die Blutgerinnung zuständigen Blutplättchen, genannt Thrombozyten, im Blut als normal. Diese Kombination ist sehr ungewöhnlich.

Die sieben Mitte März bekannt gewordenen Fälle bei der Zahl der Impfungen stellten eine auffällige Häufung dar, befand das PEI. Statistisch sei in den 14 Tagen nach der Impfung ein Fall zu erwarten gewesen; deswegen empfahl das Institut, die Impfungen bis zu einer genaueren Analyse zu stoppen. In Großbritannien, wo die Impfungen mit dem AstraZeneca-Vakzin weitergehen, traten dagegen unter elf Millionen Geimpften lediglich vier Hirnvenenthrombosen auf. Der Grund für die Diskrepanz ist unklar. Möglicherweise spielt das Alter der Geimpften eine Rolle; in Deutschland erhielten mehr jüngere Menschen die AstraZeneca-Impfung als in Großbritannien.

Nach der Prüfung durch die Europäische Medikamentenbehörde EMA rechnen Fachleute nun damit, dass die Impfungen bald fortgesetzt werden. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Hirnvenenthrombose eine sehr seltene Nebenwirkung ist. Das PEI empfiehlt Menschen, die den AstraZeneca-Impfstoff erhalten haben und sich mehr als vier Tage nach der Impfung zunehmend unwohl fühlen, bei Symptomen wie starken Kopfschmerzen oder punktförmigen Blutungen in der Haut unverzüglich medizinische Hilfe zu suchen.

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Aus welchen Gründen hatten weitere Staaten die Impfung ausgesetzt?

Insgesamt hatten nach den ersten Meldungen Mitte März mehr als 20 Länder einen vollständigen oder teilweisen Stopp verkündet. In einigen davon gab es ebenfalls Berichte über ungewöhnliche Thrombosen nach der Impfung, allerdings keineswegs in allen.

Österreich war das erste Land, das am 7. März 2021 die Impfung mit der AstraZeneca-Vakzine untersagt hat – allerdings betraf das nur eine Produktionscharge mit der Nummer ABV5300. Eine geimpfte Person entwickelte nach der Impfung mehrere Blutgerinnsel und starb einige Tage später. In den Tagen danach gingen weitere Berichte über ähnliche Vorfälle im Zusammenhang mit dieser Charge ein, darunter ein Fall von Lungenembolie.

Als Reaktion auf den Rückruf in Österreich haben Luxemburg, Estland und Litauen diese spezifische Charge zurückgerufen. Das Sicherheitskomitee der Europäischen Medikamentenbehörde (EMA) prüft die verdächtigen Impfstoffzubereitungen derzeit, in einem vorläufigen Bericht kam die Gruppe jedoch zu dem Ergebnis, dass bisher nichts auf ein spezifisches Problem mit dieser Charge hindeute.

Am 11. März 2021 setzten Italien und Rumänien einen Teil der Impfungen mit der Charge ABV5811 aus. In Italien waren zwei Männer nach der Impfung gestorben, einer von ihnen hatte laut Medienberichten ebenfalls eine Thrombose im Gehirn.

Auch in Dänemark traten nach der Impfung Thrombosen auf – dort jedoch wohl unabhängig von der Charge. Eine Patientin starb an den Blutgerinnseln, außerdem hatte sie Berichten zufolge sehr wenige Blutplättchen im Plasma – ähnlich jenen Symptomen, die nun in Deutschland den Impfstopp begründeten. Die gleiche ungewöhnliche Kombination trat in Norwegen auf, unter anderem bei drei Personen, die im Gesundheitssystem arbeiten. Beide Länder sowie Island stoppten die Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff am 11. März vollständig.

Am darauf folgenden Tag setzten die Demokratische Republik Kongo und Thailand die Impfungen als Reaktion auf die europäischen Berichte aus. Thailand hat allerdings wieder mit den Impfungen begonnen. Bulgarien stoppte den Impfstoff am selben Tag wegen eines Todesfalls im Land, der allerdings auf Herzversagen zurückging.

Irland, Slowenien, Spanien, Zypern, Luxemburg, Portugal, Indonesien, Lettland, Schweden, Frankreich und die Niederlande cancelten wegen der Warnungen die Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin ebenfalls. Allerdings trat in diesen Ländern, soweit bisher bekannt ist, die Kombination von Thrombosen und niedriger Blutplättchenkonzentration nicht auf. Die Behörden berufen sich bei ihrer Entscheidung bisher nur auf die Befunde aus anderen Ländern.

Die meisten Staaten hatten die Impfungen mit dem AstraZeneca-Impfstoff nach der EMA-Prüfung wieder aufgenommen.

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Wie gefährlich ist eine Sinusvenenthrombose?

Bei einer Sinusvenenthrombose bildet sich ein Blutgerinnsel in Gefäßen, die Blut aus dem Gehirn ableiten. Das sauerstoffarme Blut aus dem Gehirn gelangt über tiefe und oberflächliche Hirnvenen in die Ausläufer der harten Hirnhaut, Sinus genannt, und von dort über die Jugularvenen des Halses zurück zum Herzen. Wenn bei einer Sinusvenenthrombose ein Sinus verstopft, kann das Blut aus dem Schädelbereich nicht mehr abfließen. Es staut sich in den Hirngefäßen, wodurch diese platzen und bluten können.

Diese Situation ist äußerst gefährlich. Etwa ein Zehntel der Betroffenen stirbt. Erkrankte haben vor allem neu aufgetretene oder chronische Kopfschmerzen von wechselnder Stärke. Außerdem können sie epileptische Anfälle oder Lähmungen entwickeln oder ihr Bewusstsein verlieren. Sinus- und Hirnvenenthrombosen machen ungefähr ein Prozent aller Schlaganfälle aus.

Zusätzlich haben Fachleute bei den Betroffenen eine verringerte Thrombozytenzahl festgestellt, fachsprachlich Thrombozytopenie. Diese kann sich durch kleinere Blutergüsse bis hin zu Spontanblutungen bemerkbar machen. Geimpfte mit wenigen Blutplättchen wiesen punktförmige Einblutungen in der Haut auf, Petechien genannt.

Warum die an einer Sinusvenenthrombose erkrankten Personen zusätzlich eine Thrombozytopenie aufwiesen, ist nicht geklärt. Thrombozytopenien entstehen meist, weil nicht genügend Zellen im Knochenmark gebildet oder zu viele Blutplättchen verbraucht werden.

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Kommen Sinusvenenthrombosen wegen der Impfung häufiger vor als erwartet?

Das Paul-Ehrlich-Institut berichtete ursprünglich von sieben Erkrankungsfällen bei 1,7 Millionen Geimpften, von denen drei tödlich verlaufen seien. Nun ist die Zahl auf 13 gestiegen. Ob das wenig oder viel ist, hängt entscheidend davon ab, wie viele derartige Erkrankungen man ohne Impfung ohnehin erwarten würde. Hier ist die Datenlage jedoch unklar. Das Sicherheitskomitee der EMA kommt zu dem Schluss, dass man einen Zusammenhang nicht ausschließen könne, die Nebenwirkung in dem Fall aber sehr selten sei.

Dass die Sinusvenenthrombose eine so seltene Erkrankung ist, mache die epidemiologische Untersuchung schwierig, sagte am Dienstag Peter Arlett, Leiter der Abteilung für Arzneimittelsicherheit und Epidemiologie der EMA. Über derlei rare Erkrankungen gebe es wenig wissenschaftliche Veröffentlichungen, und es sei nicht umfassend geklärt, wie häufig sie unter normalen Umständen auftreten, sagte Arlett weiter.

So kommen in Deutschland laut den meistens verwendeten Zahlen durchschnittlich drei bis fünf Erkrankte auf eine Million Menschen pro Jahr. Allerdings kam eine Arbeitsgruppe in einer australischen Studie zu dem Schluss, dass jährlich bis zu 15 Menschen pro Million eine Sinusvenenthrombose entwickeln.

Ebenfalls wichtig sind Alter und Geschlecht der Betroffenen. Frauen sind dreimal häufiger von Sinusvenenthrombose betroffen als Männer, die meisten Kranken sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Passen die mit der Impfung zusammenhängenden Fälle in dieses Muster? Oder wurden womöglich überdurchschnittlich viele Menschen mit ungewöhnlich hohem Thromboserisiko geimpft, zum Beispiel Frauen, die hormonelle Verhütungsmittel nehmen?

Hinzu kommt, dass bei so kleinen Fallzahlen der Zufall eine große Rolle zu spielen beginnt. Selbst wenn die Erkrankung häufiger auftrat als erwartet, muss das nicht auf die Impfung zurückgehen. Schon wenn zwei oder drei Menschen mehr einfach Pech im falschen Moment haben, kann das die Fallzahlen in den auffälligen Bereich verschieben.

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Wie hoch ist das Risiko im Vergleich zu anderen Medikamenten?

Bisher gibt es keine Meldungen darüber, dass andere Impfstoffe gegen Covid-19 in Zusammenhang mit Sinusvenenthrombosen gebracht werden. Im Allgemeinen gehen fast die Hälfte aller Sinus- und Hirnvenenthrombosen auf hormonelle Ursachen zurück. Neben Schwangerschaft und Wochenbett sorgen besonders die Pille als Verhütungsmittel und Hormonersatztherapien mit Östrogenen in der Menopause für ein höheres Erkrankungsrisiko.

Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass die Pille mit einem drei- bis achtfach erhöhten Risiko für Sinusvenenthrombosen einhergeht. Die Hormonersatztherapie birgt ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko. Daher könnten die Hormonpräparate auch bei den aktuellen Fällen eine Rolle spielen, sagt Peter Gerlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Allerdings fehlten derzeit detaillierte Informationen zu den Betroffenen, um fundierte Aussagen treffen zu können.

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Wie lässt sich eine Sinusvenenthrombose behandeln?

Patientinnen und Patienten mit einer Sinusvenenthrombose müssen auf einer spezialisierten Akutstation für Schlaganfälle, der Stroke Unit, eines Krankenhauses versorgt werden. Gerinnungshemmende Medikamente wie Heparine – auch bekannt als Antikoagulanzien – sollen verhindern, dass die Thrombose sich weiter ausdehnt. Helfen die Medikamente nicht weiter, können Ärztinnen und Ärzte versuchen, das Blutgerinnsel mit Hilfe eines Röhrchens aufzulösen. Dazu schieben sie einen kleinen Katheter bis zum verschlossenen Gefäß vor und geben darüber ein Enzym, das den Thrombus auflöst.

Eine gefürchtete Komplikation während der Behandlung ist der Anstieg des Hirndrucks: Auf Grund des Blutstaus in den Gefäßen kann sich vermehrt Flüssigkeit im Hirngewebe einlagern. Dadurch dehnt sich das Gehirn aus, und der Druck auf das Gewebe innerhalb des beengten Schädels steigt. Wird die Gefahr zu groß, dass wichtige Hirnstrukturen eingequetscht werden, müssen Neuro-Teams einen Teil des Schädelknochens entfernen. Der Knochen wird im Lauf des Krankenhausaufenthalts wieder eingesetzt, wenn das Hirn abgeschwollen ist und genügend Platz innerhalb des Schädels hat.

Darüber hinaus könnte sich die Thrombozytopenie negativ auf die Heilungschancen bei Sinusvenenthrombosen auswirken, denn sie begünstigt Hirnblutungen. In Kombination mit den gerinnungshemmenden Medikamenten der Wahl wären zudem verstärkte Blutungen in Haut und Schleimhäuten denkbar.

Nach der Akuttherapie müssen Patientinnen und Patienten über den Krankenhausaufenthalt hinaus Antikoagulanzien schlucken. Wie lange sie Medikamente brauchen, hängt vom jeweiligen Risikoprofil der Betroffenen ab: Ist das Risiko einer Sinusvenenthrombose nur vorübergehend erhöht, wie bei einer Schwangerschaft oder im Wochenbett, können die Patientinnen die Tabletten nach drei Monaten absetzen. Erkrankte mit Sinusvenenthrombose unbekannter Ursache sollten ihre Gerinnungshemmer dagegen sechs bis zwölf Monate einnehmen. Die lebenslange Medikamenteneinnahme empfehlen Mediziner bei schwerer Thromboseneigung wie der angeborenen Faktor-V-Leiden-Mutation oder mehreren Sinusvenenthrombosen ohne ersichtlichen Grund.

Rechtzeitig behandelt, können sich die Beschwerden der Erkrankten komplett zurückbilden. Bei bis zu einem Siebtel aller Überlebenden bleiben jedoch Symptome wie insbesondere Kopfschmerzen und epileptische Anfälle bestehen.

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Wie geht es nun weiter?

Das ist noch unklar. Denn ob die Impfung mit AstraZeneca fortgesetzt wird, entscheidet nicht die EMA, sondern jeder einzelne Staat.

Es ist allerdings zu erwarten, dass sich die Bundesregierung auf dem Impfgipfel am 19. März 2021 der Einschätzung der Europäischen Arzneimittel-Agentur anschließen wird. Dann könnte der AstraZeneca-Impfstoff theoretisch schon am Wochenende darauf wieder verimpft werden.

Ob abgesagte Impftermine dann doch noch stattfinden, verschoben werden, neu vereinbart werden müssen oder man auf eine Warteliste gelangt, ist derzeit unklar – dazu gibt es je nach Bundesland unterschiedliche und teils widersprüchliche Informationen.

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