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Der Mathematische Monatskalender: »Nieder mit Euklid!«: Jean Dieudonné und die neue Lehre der Mathematik

Unter dem Pseudonym »Nicolas Bourbaki« veröffentlichten mehrere Mathematiker mit Jean Dieudonné abstrakte Fachbücher, die die Lehre das Fachs umkrempeln sollten.
Über vielen aufgeschlagenen Büchern eingeschlafen, trotz Kaffee
Die Bourbaki-Bände sind inzwischen weltberühmt – aber nicht wegen ihrer Verständlichkeit.

In seinen ersten Lebensjahren wuchs Jean Alexandre Eugène Dieudonné zusammen mit seiner Schwester Anne Marie in der nordfranzösichen Stadt Lille auf. Die finanziellen Verhältnisse der Familie waren gesichert: Der Vater Ernest hatte sich vom einfachen Angestellten zum Direktor einer Textilfabrik hochgearbeitet; seine Mutter Léontine war vor Jeans Geburt als Grundschullehrerin tätig. In seinem Elternhaus mangelte es nicht an anregender Literatur für den wissbegierigen Jungen – das Stöbern in Enzyklopädien war sein Hobby. Als 1914 die deutschen Truppen Lille besetzten, floh die Familie nach Paris. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs besuchte Jean ein Jahr lang eine Schule auf der Isle of Wight, danach setzte er seine Schullaufbahn in Lille fort. Bereits früh zeigte Jean besonderes Interesse für Mathematik. 1923 gewann er einen ersten Preis beim Concours général, dem landesweiten Mathematikwettbewerb.

1924 bestand er die Aufnahmeprüfungen an der École Polytechnique und an der École Normale Supérieure in Paris. Er entschied sich für die Aufnahme eines Mathematikstudiums an der letzteren der beiden Elitehochschulen. Zusammen mit dem gleichaltrigen André Weil hatte er das Glück, durch Lehrer wie Jacques Hadamard, Émile Picard, Élie Cartan, Gaston Julia und Paul Montel gefördert zu werden.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

Nach dem Ableisten seiner Wehrpflicht und Studienaufenthalten in Princeton (Gastdozenten: Hermann Weyl, Godfrey Hardy) sowie – als Stipendiat der Rockefeller-Stiftung – in Berlin (Ludwig Bieberbach) und in Zürich (George Pólya) promovierte er 1931 bei Montel zu einem Thema über komplexwertige Funktionen. Danach arbeitete er als maître de conférences (Lehr- und Forschungsbeauftragter) zunächst an den Universitäten in Bordeaux und Rennes, ab 1937 an den Hochschulen in Nancy und Straßburg (während der Zeit der deutschen Besetzung in Clermont-Ferrand).

1938 erhielt er den Prix Francœur; 1944 wurde ihm der Grand Prix der Académie des Sciences zugesprochen.

Nach einem Auslandsaufenthalt beginnt eine steile Karriere

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahm Dieudonné eine Gastprofessur in São Paulo, kehrte dann nach Nancy zurück, wo er endlich eine volle Professur erhielt. Einer seiner Doktoranden dort war Alexander Grothendieck, der 1966 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde. Von 1952 an lehrte er an der Universität von Michigan und an der Northwestern University in Chicago; 1958 kehrte er nach Frankreich zurück.

Zusammen mit Robert Oppenheimer gründete er in der Nähe von Paris – nach dem Vorbild des Institute for Advanced Study in Princeton ,– das IHÉS (Institut des Hautes Études Scientifiques), an dem Wissenschaftler aus der ganzen Welt forschen können.

1964 übernahm er das Amt als Dekan der neu gegründeten Universität von Nizza (Université Nice-Sophia-Antipolis, jetzt Université Côte d’Azur). Das Mathematische Institut dieser Universität trägt heute seinen Namen.

Mit der Organisation des Internationalen Mathematikerkongresses 1970 (ICM70) in Nizza beendete er seine akademische Laufbahn. Danach beschäftigte sich der »Vielschreiber« (über 300 Beiträge in Zeitschriften) vor allem mit der Abfassung von Lehrbüchern. Von 1973 bis 1981 übernahm er die Präsidentschaft des Comité National Français d'Histoire et de Philosophie des Sciences.

Jean Dieudonné

Rückblickend bezeichnete Dieudonné das Jahr 1934 als das bedeutendste in seinem Leben: Es ist das Jahr, in dem er seine Frau Odette kennen lernte; bereits ein halbes Jahr später heirateten die beiden. Aus der Ehe (»56 Jahre Glück«) gehen ein Sohn und eine Tochter hervor. Rückblickend bedauerte Dieudonné, dass er wegen seiner vielfältigen beruflichen Tätigkeiten zu wenig Zeit für seine Kinder hatte.

Eine Generation ist auf den Schlachtfeldern verblutet

Im Dezember 1934 folgte Dieudonné einer Einladung von André Weil zu einem Treffen ehemaliger ENS-Absolventen: Die Zeit war reif für ein neues französischsprachiges Buch zur Analysis, das dem damaligen wissenschaftlichen Stand entsprach – an den französischen Universitäten wurde immer noch ein Lehrbuch verwendet, das 1902 erschienen war und seitdem nicht mehr bearbeitet worden war. Anders als in Deutschland wurden während des Ersten Weltkriegs auf der französischen Seite alle Wehrtüchtigen als Soldaten an die Front geschickt, darunter auch zahlreiche junge Wissenschaftler. Deshalb dauerte es nach dem Krieg sehr lange, bis der wissenschaftliche Nachwuchs an den Universitäten in Frankreich wieder in ausreichender Zahl vorhanden war. 1934 war das Jahr, in dem Hadamard als einer der letzten bedeutenden französischen Mathematiker der Jahrhundertwende in den Ruhestand trat. Die Spitzenposition, die die französische Mathematik einmal im internationalen Vergleich hatte, war längst verloren gegangen, da die nachfolgende Generation »auf den Schlachtfeldern an der Marne verblutet war«.

Vor diesem Hintergrund konnte das zu verfassende Werk nur als gemeinschaftliches Projekt entstehen – ohne feste Autoren für die einzelnen Kapitel. Die Gruppe, zu der auch Henri Cartan, Claude Chevalley, Jean Delsarte und René de Possel gehörten, wählte für die geplante Reihe den programmatischen Titel »Éléments de Mathématique« und als Pseudonym den Namen Nicolas Bourbaki – ohne Bezug zu irgendeiner lebenden Person mit diesem Namen. (Charles Bourbaki war ein General der französischen Armee, der sich – in aussichtsloser Lage – während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 mit seinen Truppen in die Schweiz absetzte.)

Die Gruppe war prinzipiell offen für neue Mitarbeiter; in Frage kommende Kandidaten wurden von den Mitgliedern zu den regelmäßigen Treffen eingeladen; wenn sie zur Gruppe passten und mit den irritierenden Abläufen zurechtkamen, durften sie zukünftig mitarbeiten. Wenn ein Mitglied das fünfzigste Lebensjahr vollendet hatte, schied es automatisch aus. Die ersten Bände beschäftigen sich mit den Grundlagen der Mathematik; dazu gehören Mengenlehre, Algebra, Topologie, Funktionen mit einer reellen Variablen, topologische Vektorräume und Integralrechnung. Der axiomatische Aufbau der Bücher mit detailliert ausgeführten Beweisen (jedoch ohne Grafiken und Beispiele), die Betonung von allgemeinen Strukturen sowie das Herausarbeiten von Methoden wurden zum Vorbild für andere Neuerscheinungen in dieser Zeit. Im Zeitraum zwischen 1939 und 1998 wurden insgesamt 27 Bourbaki-Bände veröffentlicht.

Dieudonné verkörpert Bourbaki

Bis Anfang der 1950er Jahre war es Dieudonné, der Bourbaki verkörperte. Das Ritual der Treffen der Gruppe verlief immer gleich: Ein Mitglied legte einen Textentwurf vor; dieser wurde in der Diskussion lautstark kritisiert, meistens verrissen. Die Erregung der Beteiligten war oft so groß, dass man dem Hin und Her kaum folgen konnte. Dann übernahm ein anderes Mitglied die Formulierung der nächsten Fassung, die im Allgemeinen ein ähnliches Schicksal teilte. Dieudonné war ein temperamentvoller, begeisterungsfähiger Diskussionsteilnehmer, der aber auch zu Wutausbrüchen fähig war – bis hin zum Aufkünden seiner Mitarbeit in der Bourbaki-Gruppe. Gelegentlich erlaubten sich die »Stamm«-Mitglieder den Scherz, ihn bis zu einer solchen »Kündigung« zu reizen. Nach der Aufklärung über die wahre Situation reagierte er gelassen, keinesfalls nachtragend.

Dieudonné, l'adjudant (der Feldwebel), hatte alle Vorschläge und Zwischenstadien von Texten im Kopf und war so in der Lage, die endgültige Fassung zu formulieren. Da er bei sämtlichen Themenfeldern, auch bei solchen, in denen er nicht so bewandert war, auf Klarheit der Formulierung und Strenge der Gedankenführung achtete, profitierte er selbst, wie er rückblickend schrieb. Nach seinem Ausscheiden gab es niemanden mehr, der über ein solches Gedächtnis und ein vergleichbares enzyklopädisches Wissen verfügte.

Weil und Dieudonné ergänzten die einzelnen Bände der »Elemente« durch historische Anmerkungen, die jedoch nicht den mühevollen Diskussionsprozess durchliefen.

Auch nach seinem Ausscheiden aus der Bourbaki-Gruppe verfasste Dieudonné zahlreiche Bücher (insgesamt 26), darunter acht Bände zusammen mit Grothendieck.

Nach »La Géometrie des groupes classiques« (1955) erschienen unter anderem in den Jahren 1960 bis 1982 die neun Bände der »Grundzüge der Analysis« (Éléments d'Analyse). Im Band »Algèbre Linéaire et Géometrie Élémentaire« (1964) forderte Dieudonné die Behandlung des Vektorraumbegriffs (einschließlich des Skalarprodukts) und von quadratischen Formen als Voraussetzung für einen Lehrgang über Geometrie – bereits im Rahmen des Schulunterrichts (»A bas Euclide! Mort aux triangles!«).

Nach seiner Emeritierung widmete sich Dieudonné der Geschichte der Mathematik; im zweibändigen Werk »Abrégé d’Histoire des Mathématiques 1700–1900« legt er detailliert dar, wie einzelne Ideen entstanden und weiterentwickelt wurden. In den 1980er Jahren erscheinen weitere Bände zur Geschichte von Teilgebieten der Mathematik.

Zuletzt bettlägerig, starb er 86-jährig im Kreise seiner Familie – glücklich und zufrieden: »Jetzt bin ich bereit zu gehen. … Ich habe alles gehabt, was ich im Leben wollte.«

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