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Der Mathematische Monatskalender: Jean-Victor Poncelet (1788–1867) – er bahnte Napoleon den Weg nach Moskau

Nach einer folgenreichen Kritik Cauchys wendet Poncelet der projektiven Geometrie den Rücken zu und widmet sich fortan der angewandten Mathematik.
Jean-Victor Poncelet

Jean-Victor Poncelet wird als uneheliches Kind von Anne-Marie Perrein und Claude Poncelet, einem reichen und einflussreichen Großgrundbesitzer, in Metz geboren. Erst einige Jahre später heiratet der Vater, Mitglied des Parlement de Metz, des regionalen Gerichtshofs für Lothringen, die Mutter und erkennt somit seine Vaterschaft an. Trotz der Heirat der Eltern bleibt der Junge in einer Pflegefamilie in einem Städtchen in der Nähe von Metz.

Erst im Alter von 15 Jahren zieht Jean-Victor nach Metz und besucht dort ein Lycée, an dem er erfolgreich auf die Aufnahmeprüfung der École Polytechnique in Paris vorbereitet wird. Dort hat er das Glück, von herausragenden Lehrern unterrichtet zu werden, darunter Gaspard Monge, Lazare Carnot, dem Vater von Nicolas Léonard Sadi Carnot, dem Begründer der Thermodynamik, Charles Brianchon und André-Marie Ampère.

Trotz einer längeren Erkrankung schließt er 1810 den ersten Teil seines Studiums ab. Er entscheidet sich dann für eine militärische Laufbahn, so dass er für die praktisch orientierte Phase seines Studiums an die École d’application nach Metz abgeordnet wird.

Im März 1812 erhält der frisch examinierte Ingenieur und Leutnant der französischen Armee den Auftrag, die Befestigungsanlage des Fort Rammekens (bei Vlissingen, Provinz Zeeland) auszubauen. Aber bereits im Juni des Jahres erreicht ihn der Befehl, sich der aus 600 000 Soldaten bestehenden Grande Armée anzuschließen, nachdem Napoleon Russland den Krieg erklärt hat. Der junge Ingenieur wird damit betraut, bei Smolensk eine Brücke über den Dnepr zu errichten, was ihm trotz heftigen Beschusses gelingt, da er gleichzeitig den Bau an einer anderen Stelle vortäuscht. Nach der für beide Armeen verlustreichen Schlacht bei Borodino (mit mehr als 30 000 Toten auf beiden Seiten) ist für die französische Armee der Weg nach Moskau frei.

Im niedergebrannten Moskau wartet Napoleon mit seiner inzwischen auf 100 000 Mann geschrumpften Restarmee vier Wochen lang vergeblich auf Unterhändler des russischen Zaren; dann gibt er den Befehl zum Rückzug. Bei einem Gefecht in der Nähe von Smolensk wird Poncelets Vorgesetzter getötet; er selbst stürzt vom Pferd. Da ihn aber die eigenen Soldaten ebenfalls für tot halten, lassen sie ihn liegen, und so gerät er in russische Kriegsgefangenschaft. Er überlebt nur, weil er als französischer Offizier im Fall von Friedensverhandlungen als wichtiges »Faustpfand« gilt.

Fünf Monate lang wird er von einem Lager zum nächsten verschleppt, bis er schließlich in Saratow an der Wolga ankommt. Nach einem Friedensabkommen im Juni 1814 kann er endlich wieder in seine Heimat zurück.

Um sich die Zeit in der Gefangenschaft zu vertreiben, beschäftigt er sich insbesondere mit Geometrie; und da ihm keinerlei Literatur zur Verfügung steht und er sich auch nicht mehr an alle Einzelheiten aus den Vorlesungen seines Studiums erinnert, muss er zwangsläufig alles neu entwickeln. Seine »Cahiers de Saratov« gibt er 50 Jahre später als Buch heraus (»Applications d’analyse et de géometrie«).

Von 1815 bis 1825 ist er als Hauptmann des Pionierbataillons in Metz verantwortlich für Wartungsarbeiten an Festungen der Region und für Neubauten. In dieser Zeit konstruiert er unter anderem einen neuartigen Typ einer Zugbrücke. Und obwohl er zusätzlich noch einen Lehrauftrag für Mechanik an der École d’Application wahrnimmt, bleibt ihm genügend Zeit, um die in Saratow entwickelten Ideen zu vertiefen.

Von 1817 an veröffentlicht er mehrere Beiträge in der von Joseph Diez Gergonne herausgegebenen Zeitschrift »Annales de mathématiques pures et appliquées«. 1820 legt er der Académie des Sciences die Schrift »Essai sur les propriétés projectives des sections coniques« vor, in der er die Grundzüge der projektiven Geometrie darlegt.

Augustin Cauchy, von der Académie mit der Begutachtung des Beitrags beauftragt, kann dem Ansatz Poncelets wenig abgewinnen, sieht sogar die Gefahr von Fehlvorstellungen. Die Autorität Cauchys verhindert zunächst eine breitere Auseinandersetzung mit Poncelets Überlegungen. Gleichwohl verfasst Poncelet weitere Schriften und veröffentlicht 1822 das Buch »Traité des propriétés projectives des figures«.

Bereits Girard Desargues hatte 1639 bei seinen Untersuchungen zu perspektivischen Darstellungen erkannt, dass es Sinn macht, die Objekte der gewöhnlichen euklidischen Geometrie, also Punkte, Geraden und Ebenen, durch »uneigentliche« Elemente zu ergänzen: Aus der Eigenschaft, dass parallele Geraden sich »im Unendlichen schneiden«, ergeben sich Fernpunkte, entsprechend Ferngeraden aus dem »Schnitt« von zueinander parallelen Ebenen. Durch die Hinzunahme dieser uneigentlichen Elemente lassen sich einige Sätze der Geometrie eleganter formulieren, weil der Fall paralleler Geraden oder Ebenen dann keinen Sonderfall mehr darstellt. Auch hatte Desargues bereits entdeckt, dass es genügt, bestimmte Sätze über Kegelschnitte nur für den Sonderfall eines Kreises zu beweisen, da alle Kegelschnitte durch Projektion eines Kreises entstehen.

Die Einsichten Desargues’ waren in der Zwischenzeit nahezu in Vergessenheit geraten. Durch Poncelets Untersuchung der projektiven Eigenschaften der Figuren treten sie wieder ins Bewusstsein der Mathematiker.

Poncelet bezeichnet Eigenschaften als projektiv, die bei einer zentralprojektiven Abbildung invariant sind. Dazu gehört zum Beispiel das Doppelverhältnis von vier Punkten, die auf einer Geraden liegen, siehe die untere Abbildung.

Eines der wichtigsten Prinzipien der projektiven Geometrie ist das Dualitätsprinzip (von Poncelet als Reziprozitätsgesetz bezeichnet): In der Ebene sind zum Beispiel Punkte und Geraden zueinander duale Objekte. Zu einem Satz über Punkte und Geraden erhält man den zugehörigen dualen Satz, indem man die Begriffe vertauscht.

Beispiel: »Zwei Punkte \(A\) und \(B\) liegen auf genau einer Geraden \(g\).« ist dual zu »Zwei Geraden \(a\) und \(b\) schneiden sich in genau einem Punkt \(G\).«

François Arago, einflussreiches Mitglied der Académie, überredet 1824 Poncelet, den Lehrstuhl für angewandte Mechanik an der École d’application zu übernehmen. In den folgenden Jahren arbeitet sich Poncelet intensiv in das neue Arbeitsgebiet ein und beschäftigt sich nur noch selten mit Problemen der projektiven Geometrie. Dies liegt zum einen an der nachwirkenden Kritik Cauchys, durch die Veröffentlichungen neuer Beiträge verzögert werden; zum anderen gerät er in einen unerfreulichen Prioritätsstreit mit Gergonne und mit dem jungen deutschen Mathematiker Julius Plücker.

Poncelet nimmt die Herausforderungen seiner neuen Tätigkeit sehr ernst und ist äußerst erfolgreich. Gerade ein Jahr im Amt, erhält er für seine Idee gekrümmter Schaufeln für Turbinen und Wasserräder einen Preis der Académie des Sciences; denn durch diese Erfindung kann die Effektivität der Wassermühlen erheblich gesteigert werden. In den kommenden Jahren finden die Mitschriften und Ausarbeitungen seiner Vorlesungen zur theoretischen, experimentellen und praktischen Mechanik landesweit schnelle Verbreitung. Die beiden Bücher, die zwei seiner Schüler in seinem Auftrag zusammenstellen, werden mehrfach nachgedruckt.

1834 wird für Poncelet eine besondere Professur für Mechanik an der Sorbonne eingerichtet; auf Grund seiner herausragenden physikalisch-technischen Beiträge erfolgt seine Wahl als Mitglied in die Académie des Sciences. Auch seine militärische Laufbahn geht weiter – bis hin zur Ernennung zum Brigadegeneral (1848).

Im selben Jahr wird er zum Direktor der École Polytechnique ernannt – verbunden mit dem Auftrag, diese Einrichtung zu reformieren.

Obwohl seit 1850 im Ruhestand, übernimmt er die Leitung der Kommission, die den französischen Beitrag zur großen Industrieausstellung in London koordiniert; danach beteiligt er sich an der Vorbereitung der ersten Weltausstellung 1855 in Paris.

1857 veröffentlicht er ein zweibändiges Werk über die Entwicklung der Mechanisierung und der industriellen Fertigungsmethoden. Von 1862 an stellt er in vier umfangreichen Bänden die von ihm verfassten, teilweise nicht veröffentlichten Beiträge zur projektiven Geometrie zusammen (beginnend mit den »Cahiers de Saratov«) und spart dabei nicht mit polemischen Kommentaren zur Rezeption seiner Theorien.

Während der Arbeit an einer Zusammenstellung seiner Beiträge zur angewandten Mechanik stirbt er. Nur ein kleiner Teil der Unterlagen wird später von einem seiner Schüler herausgegeben; der Rest geht während des Kriegswirren 1914 bis 1918 verloren.

Jean-Victor Poncelet (1788–1867)

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