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Der Mathematische Monatskalender: Maria Gaetana Agnesi (1718–1799)

Eine mathematische Kurve erlangte wegen einer falschen Übersetzung den wenig ruhmvollen Namen »Witch of Agnesi« – und das, obgleich Agnesi sie gar nicht entdeckt hatte.
Maria Gaetana Agnesi (1718-1799)

Maria Gaëtana Agnesi gehört zu den wenigen Frauen, deren Namen im Rahmen der Geschichte der Mathematik genannt wird. Erwähnt wird dabei, dass sie die erste Frau war, die eine Mathematikprofessur innehatte. Dies ist nur teilweise richtig, denn sie wurde zwar auf einen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität von Bologna berufen, hat dieses Amt aber nie wahrgenommen. Man findet keinen Satz der Mathematik, der nach ihr benannt wurde, wohl jedoch eine besondere Kurve, mit der sich vor ihr bereits Pierre de Fermat, Guido Grandi und Isaac Newton beschäftigt hatten, doch leider erhielt diese Kurve wegen einer falschen Übersetzung eine negativ besetzte Bezeichnung: »Witch of Agnesi« (Hexenkurve von Agnesi).

Maria Gaëtana wird als erstes Kind des reichen Seidenhändlers Pietro Agnesi und seiner Frau Anna Fortunato Brivio in Mailand geboren. (Manche Quellen geben an, dass ihr Vater Mathematikprofessor war, was aber definitiv nicht stimmt – einer der ersten Biografen hatte diese falsche Angabe gemacht, und zahlreiche Autoren übernahmen dies bis heute ungeprüft.) Pietro Agnesi ist als Kaufmann äußerst erfolgreich, findet aber nicht die gewünschte Anerkennung bei den einflussreichen Adeligen der Stadt. Also versucht er durch spektakuläre Empfänge in seinem Haus Aufsehen zu erregen. Wie sonst nur in den Adelshäusern üblich, finden bei solchen Veranstaltungen konzertante Aufführungen und philosophische Disputationen statt. Und da trifft es sich gut, dass über Maria Gaëtana und ihre Schwester Maria Teresa der Ruf als Wunderkinder verbreitet wird.

Auf Grund seines Reichtums kann sich Pietro Agnesi die besten Privatlehrer leisten, und zudem verfügen die beiden Mädchen über außergewöhnliche Begabungen. Maria Gaëtana spricht im Alter von fünf Jahren ein »wunderbares« Französisch (worüber sogar ein Sonett veröffentlicht wird); mit neun Jahren soll sie im Rahmen eines Empfangs im Hause Agnesi im besten klassischen Latein einen Vortrag darüber gehalten haben, dass auch Mädchen Zugang zu höherer Bildung erhalten sollten. (Man weiß heute, dass einer ihrer Lehrer den Text des Vortrags in Italienisch verfasste, sie ihn aber selbstständig übersetzt und auswendig gelernt hatte.)

Man spricht über Maria Gaëtana als »oracolo settelingue« (siebensprachiges Wunder), als sie auch noch Griechisch, Deutsch, Spanisch und Hebräisch lernt und nach ihren Vorträgen zu verschiedenen Themen aus Philosophie und Naturwissenschaften auch in diesen Sprachen Rede und Antwort steht. Ihre Schwester Maria Teresa begeistert als Cembalospielerin und Komponistin die Besucher der Veranstaltungen. Wann immer Vertreter des europäischen Adels nach Mailand kommen, findet im Hause Agnesi ein Empfang mit solchen spektakulären Präsentationen statt, so dass die Agnesis über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt werden. 1738 erscheint das Buch »Propositiones Philosophicae« – es enthält 190 Vorträge Maria Gaëtanas aus den vorangegangenen Jahren mit Themen, die sich beispielsweise mit dem Zusammenhang von Körper und Seele beschäftigen oder das Entstehen von Ebbe und Flut erklären.

1740 hat Pietro Agnesi endlich sein Ziel erreicht: Der reiche Kaufmann kann sich einen Adelstitel kaufen. Im gleichen Jahr äußert Maria Gaëtana, die zunehmend unglücklich über ihre vom Vater inszenierten Auftritte geworden ist, diesem gegenüber den Wunsch, in ein Kloster eintreten zu dürfen. Aus Angst, seine liebste Tochter zu verlieren, verzichtet dieser von nun an auf deren Zurschaustellung.

Die vielseitig begabte junge Frau kann sich jetzt den Themen widmen, die sie wirklich interessieren: Sie liest theologische Schriften und beschäftigt sich mit Mathematik. Hier sind es vor allem die neuen Methoden Isaac Newtons, die sie faszinieren. Bei ihrem Studium wird sie durch Ramiro Rampinelli unterstützt, einen Mönch, der zuvor als Professor für Mathematik in Rom und Bologna gelehrt hatte, und später auch durch Jacopo Riccati und dessen Söhne.

Sie verfasst einen Kommentar zu Guillaume de L'Hôpitals posthum veröffentlichtem Werk »Traité analytique des sections coniques« (Analytische Behandlung von Kegelschnitten), der allerdings nicht veröffentlicht wird.

Im Jahr 1748 ist die Zeit reif für ein zusammenfassendes Buch zur Infinitesimalrechnung: Seit dem 1696 erschienenen Werk »Analyse des infiniment petits pour l'intelligence des lignes courbes« von L'Hôpital ist keine Schrift mehr veröffentlicht worden, die eine Übersicht über die Entwicklung der Analysis gibt. Insofern kommt ihr über 1000 Seiten umfassendes zweibändiges Werk »Instituzioni analitiche ad Uso della Gioventù Italiana« (Lehrbuch der Analysis für die italienische Jugend) zum richtigen Zeitpunkt. Das privat aus dem Vermögen ihres Vaters gedruckte Werk widmet sie der Kaiserin Maria Theresia (Mailand gehört zu dieser Zeit zum Habsburger Reich), die ihr zum Dank einen kostbaren Ring schenkt.

In der in Leipzig erscheinenden Zeitschrift »Acta Eruditorum« erscheint ein freundlicher Kommentar (»Foeminam doctissimam, quae ... sui sexus est unica«), ebenso in den Berichten der Pariser »Académie des sciences«, die allerdings von wenig bekannten Autoren verfasst sind.

Maria Gaëtana Agnesi wird als Mitglied in die Akademie von Bologna gewählt und durch Papst Benedikt XIV zunächst zur »lectrix honoraria« (Lektorin ehrenhalber) ernannt, dann auf den Lehrstuhl für Mathematik berufen (Bologna gehörte damals zum Kirchenstaat), dessen Aufgaben sie aber – wie oben erwähnt – nicht wahrnimmt.

Denn ein Ereignis verändert ihre Lebenssituation vollständig: 1752 stirbt ihr Vater. Von den insgesamt 21 Kindern (aus drei Ehen) leben noch 13 im Hause; zunächst widmet sie sich daher der Erziehung dieser minderjährigen Kinder.

Ihr Interesse an Mathematik ist schlagartig beendet – auf Fragen zur Mathematik, die ihr auch weiterhin gestellt werden, lässt sie sich nicht mehr ein; unter anderem erhält sie von der Universität Turin eine Anfrage, was von den eingereichten Papieren eines gewissen Giuseppe Lodovico Lagrangia zu halten ist (später bekannt unter dem französischen Namen Joseph-Louis Lagrange). Ihre umfangreiche Fachbibliothek wird aufgelöst. Stattdessen liest sie nur noch Bücher, die sich mit religiösen Themen beschäftigen, und verfasst eigene Texte. Auch kümmert sie sich um Arme und Kranke, richtet zunächst im Haus der Familie ein Hospiz für Frauen ein, später dann in einem eigenen Haus. Ihr geerbtes Vermögen spendet sie für wohltätige Zwecke. 1799 stirbt sie selbst in völliger Armut und wird anonym in einem Massengrab beerdigt, das im Rahmen der Napoleonischen Besatzung verwüstet wird.

Auch wenn Agnesis Bände ins Französische und ins Englische übersetzt werden, erlangen sie nicht die Bedeutung wie das im gleichen Jahr erschienene Werk Leonard Eulers »Introductio in analysin infinitorum« oder auch Gabriel Cramers »Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques« aus dem Jahr 1750. Wie der Titel der beiden Bände besagt, hat Agnesi ein Werk verfasst, mit dem die Jugend die neue Mathematik erlernen kann – es ist also eher ein Schulbuch als ein Werk mit innovativem Anspruch. Die vier Kapitel des Werks sind in verständlicher Sprache formuliert und klar gegliedert. Anhand von zahlreichen Aufgabenbespielen werden Themen aus elementarer Algebra, Differenzial- und Integralrechnung behandelt und sogar einfache Differenzialgleichungen.

Bei der Übersetzung der »Instituzioni analitiche« ins Englische unterläuft dem »Lucasian Professor of Mathematics« aus Cambridge, John Colson, der oben angegebene Fehler: Guido Grandi (1671-1742) hatte die Kurve lateinisch als »versoria« bezeichnet (aus dem Lateinischen versare = drehen) und in Italienisch als »la versiera«. Colson verwechselt dies mit »l'avversiera«, was so viel wie weiblicher Teufel oder Hexe bedeutet (im Lateinischen ist »adversarius« der Feind, hier: der Gegner Gottes), und so gibt er der folgenden Ortskurve den Namen »witch of Agnesi«:

Ausgehend von einem Kreis mit festem Radius \(r\), auf dessen Durchmesser die Punkte \(O(0;0)\) und \(M(0;2r)\) liegen, zeichnet man von \(O\) aus durch einen beliebigen Punkt \(A\) der Kreislinie eine Gerade. Diese schneidet die Gerade mit \(y = 2r\) in einem Punkt \(N(n;2r)\), eine Parallele hierzu durch \(A\) schneidet die Gerade mit \(x = n\) im Punkt \(P\). Bewegt man \(A\) auf der Kreislinie, dann ist die Ortskurve von \(P\) die gesuchte Kurve. Sie erfüllt die Funktionsgleichung \( y=\frac{8r^3}{x^2+4r^2},\) also \( \frac{y}{2r} = \frac{1}{\left(\frac{x}{2r}\right)^2 +1}\).

Das folgende Diagramm zeigt die Agnesi-Kurven für \(r=1, 2, 4\) und \(8\).

Maria Gaetana Agnesi (1718 – 1799)

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