Der Mathematische Monatskalender: Marius Sophus Lie (1842–1899)
In der englischsprachigen Wikipedia-Liste von Begriffen, die den Namen des Mathematikers Lie enthalten, findet man 73 Einträge beginnend mit einem Kleinplaneten, der nach Lie benannt ist, bis hin zu algebraischen Strukturen, die mit der \(n\)-dimensionalen Torus-Fläche zu tun haben (im Volksmund wird der zweidimensionale Torus auch als Donut bezeichnet). Studierenden der Mathematik begegnen die so genannten Lie-Gruppen oft bereits in den Anfangssemestern; außerhalb der Mathematiker-Community ist der Name des norwegischen Gelehrten allerdings kaum bekannt.
Marius Sophus Lie wird als jüngstes von sechs Kindern eines protestantischen Pastors in Nordfjordeide geboren, einem Ort an der Westküste Norwegens, zwischen Bergen und Ålesund gelegen. Von 1857 an besucht er eine private Lateinschule in Christiania (früherer Name von Oslo) mit dem Ziel, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Da er nur über eine eingeschränkte Sehfähigkeit verfügt, muss er diesen Wunsch aufgeben. Mit 17 Jahren wechselt er an die Universität; er besucht Vorlesungen, die ihn auf eine zukünftige Tätigkeit als Lehrer vorbereiten, darunter auch bei den Mathematikern Peter Ludwig Mejdell Sylow und Carl Bjerknes (Vater des berühmten Physikers und Metereologen Vilhelm Bjerknes). In der Vorlesung Sylows lernt Lie den Zusammenhang zwischen Gleichungslehre und Gruppenstruktur kennen (im Rahmen einer Einführung in die Galois-Theorie), insbesondere auch die Bedeutung der Beiträge seines Landsmanns Niels Henrik Abel. Nach der Abschlussprüfung im Jahr 1865 beginnt er als Privatlehrer zu unterrichten – zunächst ohne konkrete Zukunftspläne. Diese Tätigkeit befriedigt ihn nicht; ihm schwebt eine akademische Laufbahn vor – dabei schwankt er zwischen Astronomie, Physik, Botanik und Zoologie. Schließlich konzentriert sich sein Interesse auf die Mathematik.
Noch heute lässt sich anhand der Ausleihunterlagen der Universitätsbibliothek von Christiania nachverfolgen, wie intensiv sich Lie in verschiedene mathematische Themen eingearbeitet hat. Besonders ist er fasziniert von den neuartigen Ideen von Jean-Victor Poncelet und Julius Plücker zur Geometrie. Plücker hatte die Idee entwickelt, statt der Punkte im Raum Geraden (oder Kugeln) zu betrachten, die durch diese Punkte verlaufen bzw. diese Punkte enthalten; Kurven lassen sich durch Tangenten "ersetzen", gekrümmte Flächen durch Tangentialebenen.
1869 veröffentlicht er eine erste Abhandlung auf eigene Kosten, da die Akademie der Wissenschaften von Christiania nicht bereit ist, die im Beitrag enthaltenen revolutionären Ansätze mitzutragen. Als dann aber die Einreichung der Abhandlung in Crelles Journal erfolgreich ist (Repräsentation der Imaginären der Plangeometrie), erhält er sogar ein Reisestipendium, um mit Mathematikern in Berlin und Göttingen in persönlichen Kontakt treten zu können.
Ernst Eduard Kummer räumt Lie die Möglichkeit ein, die neuen Ideen in seinem Seminar vorzutragen, und er ist voll des Lobes darüber. Noch erfreulicher ist seine Begegnung mit Felix Klein, der als ehemaliger Assistent Plückers den Lie'schen Ideen gegenüber besonders aufgeschlossen ist. Zwischen beiden entwickelt sich aus der entstehenden Zusammenarbeit eine intensive Freundschaft.
Gemeinsam reisen sie nach Paris, um sich mit Gaston Darboux, Michel Casles und Camille Jordan auszutauschen. Insbesondere Jordan, dessen kurz zuvor veröffentlichte Abhandlung Traité des substitutions et des équations algébriques heute als einer der grundlegenden Texte der Gruppentheorie gilt, gibt Lie die Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein.
Nach Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs im Juli 1870 muss Klein als preußischer Staatsbürger das Land schnellstens verlassen. Lie glaubt, dass er wegen seiner norwegischen Staatsangehörigkeit nicht gefährdet ist, aber als sich die deutschen Truppen der französischen Hauptstadt nähern, beschließt auch er fortzugehen. Auf dem Weg nach Italien wird er in Fontainebleau als vermeintlich deutscher Spion verhaftet – die mit deutschsprachigen Begriffen versehenen, für mathematische Laien unverständlichen Notizen werden für verschlüsselte Botschaften gehalten. Erst nach einem Monat kann Darboux seine Freilassung bewirken.
1871 kehrt Lie nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin wieder nach Christiania zurück, verfasst dort seine Dissertation Über eine Klasse geometrischer Transformationen und wird auf einen eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl berufen. Zusammen mit Sylow gibt er – mehr als vierzig Jahre nach dem Tod Abels – die gesammelten Werke dieses früh verstorbenen genialen Mathematikers heraus.
1874 heiratet er; aus der glücklichen Ehe gehen drei Kinder hervor.
In den nächsten Jahren machen Lies Untersuchungen enorme Fortschritte; in diesem Zusammenhang entwickelt er eine Methode, wie man aus speziellen Lösungen von Differenzialgleichungen weitere Lösungen bestimmen kann. Obwohl seine Ergebnisse von Bedeutung sind, erhält er kaum eine Rückmeldung. Das liegt zum einen daran, dass seine Gedankengänge nicht immer leicht nachzuvollziehen sind, zum anderen, dass er in Christiania von den Zentren der Mathematik in Europa abgeschnitten ist.
Sein Freund Felix Klein, der 1880 einen Lehrstuhl in Leipzig übernommen hat, bemerkt, wie sehr Lie darunter leidet, und er entsendet – mit Lies Einverständnis – Friedrich Engel, einen der Leipziger Doktoranden, nach Christiania. Aus dieser 9-monatigen Zusammenarbeit entwickelt sich eine über viele Jahre währende kollegiale Freundschaft, die schließlich dazu führt, dass sie gemeinsam das 3-bändige Werk Theorie der Transformationsgruppen veröffentlichen (1888 bis 1893).
1886 nimmt Lie einen Ruf an die Universität in Leipzig an (als Nachfolger von Klein, der nach Göttingen wechselt). Hier findet Lie endlich auch die ersehnte unmittelbare Anerkennung; seine Vorlesungen werden von überdurchschnittlich vielen Studenten aus verschiedenen Ländern besucht; während seiner 12-jährigen Tätigkeit in Leipzig hat er 26 Doktoranden.
In den 1890er Jahren verschlechtert sich Lies psychische und physische Verfassung. Er arbeitet zu viel, leidet an Schlaflosigkeit, ist im Alltag schnell gereizt und reagiert oft unangemessen empfindlich. Sein Gesundheitszustand kann durch einen Aufenthalt in einem Sanatorium (damalige Bezeichnung: "Nervenheilanstalt") nur vorübergehend stabilisiert werden. In dieser Zeit verändert sich auch sein Verhältnis zu Klein in dramatischer Weise: Klein hatte einen Beitrag veröffentlicht, in dem er die Entstehungsgeschichte seines Erlanger Programms beschreibt. Lie, der zweifelsohne maßgeblich an der Entwicklung des Programms beteiligt war, hält seine Rolle in dieser Darstellung für unterbewertet, und er gerät in Streit mit Klein. Im Vorwort des dritten Bandes der Theorie der Transformationsgruppen greift Lie seinen ehemaligen Freund Felix Klein sogar massiv an; mit seinem Angriff schadet er allerdings seinem eigenen Ruf mehr als dem von Klein.
Trotz der wachsenden internationalen Anerkennung (Aufnahme in verschiedene wissenschaftliche Akademien) fühlt er sich in der Fremde unwohl; er vermisst die Einsamkeit der wilden Landschaften Norwegens, die er als Wanderer durchstreifte. Auch sein physischer Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend.
1898 kehrt er auf seinen Lehrstuhl in Christiania zurück. Voller Optimismus verkündet er seine Pläne für zukünftige Veröffentlichungen. Er versucht, die Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, aber nur wenige Wochen nach seiner Rückkehr verschlechtert sich sein Gesundheitszustand wieder. Marius Sophus Lie stirbt an perniziöser Anämie, eine Form der Blutarmut, die auf einem Mangel an Vitamin B12 beruht.
In den 1920er und 1930er Jahren wird das umfangreiche Werk Lies von Friedrich Engel und Poul Heegaard in sechs Bänden herausgegeben.
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