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Der Mathematische Monatskalender: Weil Geschichte zu schwer war, wurde Mary Cartwright Mathematikerin

Sie war eine der ersten erfolgreichen Mathematikerinnen des 20. Jahrhunderts. Unter anderem widmete sie sich dem Chaos in der Radartechnik.
Quantencomputer scheitern an der Verschränkung
Wie Mary Cartwright herausfand, führt chaotisches Verhalten dazu, dass manche Frequenzen schlechte Radarmessungen verursachen.

Mary Lucy Cartwright (17.12. 1900–3.4. 1998) wurde als drittes von fünf Kindern des Vikars William Degby Cartwright und seiner Frau Lucy in Aynho (Northamptonshire, etwa 40 Kilometer nördlich von Oxford) geboren. Ihre beiden älteren Brüder kamen im Fronteinsatz während des Ersten Weltkriegs ums Leben.

Bis zum Alter von elf Jahren wurde sie von einer Hauslehrerin unterrichtet; danach wechselte sie auf ein Internat. Ihr Lieblingsfach in der Schule war Geschichte, aber das Pauken von Faktenwissen missfiel ihr so sehr, dass sie der Empfehlung ihrer engagierten Mathematiklehrerin folgte und sich 1919 nach bestandener Aufnahmeprüfung sowie Zusatzprüfungen in Griechisch und Latein am St Hugh's College der Oxford University im Fach Mathematik einschreiben konnte.

Die Bedingungen für ein Studium waren zu dieser Zeit besonders schwierig: Abgesehen von der Tatsache, dass insgesamt nur fünf Frauen an der Universität das Fach Mathematik studierten, litten alle unter dem Massenandrang von jungen Männern, die endlich – nach dem Ende des Weltkriegs – den Militärdienst verlassen konnten. An manchen Tagen gelang es ihr nicht, in die Vorlesungssäle zu kommen, so dass sie sich Mitschriften von anderen Studierenden besorgen musste.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Für seine Schüler hat Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, den »mathematischen Monatskalender« geschrieben und mit passenden Briefmarken der vorgestellten Personen ergänzt. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie nun auch hier.

Bei der Zwischenprüfung nach zwei Jahren erreichte Mary Cartwright trotz aller Anstrengungen nur eine befriedigende Note (Second Class Honours), was ihren selbst gesetzten Leistungsstandards nicht entsprach (allerdings erreichten in diesem Jahrgang nur vier Absolventen eine bessere Note). Vorübergehend dachte sie sogar über einen Wechsel zum Studienfach Geschichte nach, aber die Erinnerung an das Faktenpauken in der Schulzeit hielt sie davon ab. Später sagte sie mit leichter Ironie: Sie habe sich weiter für Mathematik entschieden, weil ihr das leichter vorkam …

Gleichwohl behielt sie ihr Interesse an Geschichte bis zu ihrem Lebensende bei; nach ihrer Emeritierung verfasste sie eine Reihe von fachhistorischen Abhandlungen und Biografien, und anderem über Abraham de Moivre und über Jacques Hadamard.

Zwei nützliche Tipps prägten ihre Karriere

Durch einen Kommilitonen erhielt Cartwright den Tipp, das Buch »A Course of Modern Analysis« von Edmund T. Whittaker und George N. Watson durchzuarbeiten; was sie erfolgreich umsetzte. Dieser »Klassiker« zur Differenzial- und Integralrechnung ist seit der Veröffentlichung im Jahr 1902 immer wieder nachgedruckt worden (letzte Auflage im Jahr 2021).

Ein zweiter Tipp war entscheidend für ihr weiteres Leben: Sie besuchte die Abendseminare von Godfrey Harold Hardy, die jeden Montag in der Zeit von 20 Uhr 45 bis 23 Uhr stattfanden. Hierfür benötigte sie nicht nur dessen persönliche Zulassung, sondern auch eine Erlaubnis, zu so später Stunde außer Hause zu sein.

Hardys Vorlesungen beschrieb sie später als fesselnd und inspirierend, was sich auf ihre zukünftige Karriere äußerst positiv auswirkte. In ihrem Abschlussexamen, das sie 1923 bei Hardy ablegte, erreichte sie die Bestnote.

Mary Cartwright

Um ihre Familie nicht länger finanziell zu belasten, unterrichtete sie danach an verschiedenen Schulen. Hierbei fühlte sie sich jedoch durch die vielen Vorschriften (bezüglich der Unterrichtsmethode und durch Verwaltungsaufgaben) zu sehr eingeengt, so dass sie 1928 wieder nach Oxford zurückkehrte, um bei Hardy zu promovieren – sie ist die erste Frau, die in Oxford den Doktortitel erhielt.

Eine lebenslange Freundschaft mit Littlewood

Da Hardy wegen einer Gastprofessur in Princeton abwesend war, wurde Cartwright von Edvard Charles Titchmarsh, Hardys ehemaligem Studenten (und späterem Nachfolger auf dessen Lehrstuhl in Oxford) betreut. Die Prüfung der Dissertation über Nullstellen von Integralfunktionen (»The Zeros of Integral Functions of Special Types«) und das Kolloquium übernahm Hardys Freund John Endensor Littlewood von der University of Cambridge – sie begegnete ihrem Prüfer in der mündlichen Prüfung zum ersten Mal.

1930 erhielt Mary Cartwright ein Stipendium für das Girton College (eine Hochschule nur für Frauen, angegliedert an die University of Cambridge), um über das Thema ihrer Doktorarbeit weiterzuforschen. Dort begann auch ihre langjährige fruchtbare Zusammenarbeit mit Littlewood. Unter anderem gelang es ihr, einen bedeutenden Satz über eine gewisse Klasse von komplexen Funktionen zu beweisen, der heute ihren Namen trägt (»Cartwright's Theorem«); ihr Beitrag erschien 1935 sogar in der weltweit höchstrangigen Zeitschrift »Mathematische Annalen«.

Dank der Empfehlungen von Hardy und Littlewood wurde Cartwright mit der Durchführung von Vorlesungen beauftragt. 1936 wurde sie Studienleiterin für Mathematik am Girton College. Als Anfang 1938 ein erneuter Krieg in Europa im Raum stand, erfuhr Cartwright von einer Anfrage der britischen Regierung an die London Mathematical Society, ob Mathematiker bei einem schwierigen Problem helfen können, das »bei bestimmten elektrischen Apparaten« auftritt.

Chaos im Radar

Was nicht öffentlich bekannt gegeben werden durfte: Es handelte sich um die geheimen Forschungen an Hochfrequenzfunkwellen, die heute unter der Bezeichnung Radar (Abkürzung für »radio detection and ranging«, sinngemäß übersetzt: funkgestützte Ortung und Abstandsmessung) bekannt ist. Die von den Herstellern entwickelten Verstärker arbeiteten instabil und unzuverlässig; ihr Verhalten war unvorhersehbar, wenn die Wellenlängen variierten.

Aber es war nicht die Schuld der Ingenieure, die diese Apparate gebaut hatten, sondern – wie Cartwright zusammen mit Littlewood herausfand: Es lag an den zu Grunde liegenden Differenzialgleichungen, die bei bestimmten Parameterwerten chaotisches Verhalten zeigen. Das Problem konnten sie zwar nicht mehr vor Ausbruch des Krieges lösen, aber die Ingenieure wussten dann, dass sie bei den Messungen bestimmte Frequenzen vermeiden sollten.

Aus Geheimhaltungsgründen konnten Cartwright und Littlewood ihren Beitrag »On non-linear differential equations of the second order« erst nach dem Krieg veröffentlichen. Das Verhalten eines so genannten Van-der-Pol-Oszillators, einem schwingungsfähigen System mit nichtlinearer Dämpfung und Selbsterregung, kann durch eine Differenzialgleichung beschrieben werden.

Der Aufsatz blieb über viele Jahre unbeachtet. Heute wird er als grundlegend angesehen, da er sich bereits sehr früh mit einem Phänomen beschäftigte, das erst 1972 durch Edward Lorenz populär wurde. Dessen Vortrag mit dem provokativen Titel »Löst der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas aus?«, der heute nahezu sprichwörtlich verwendet wird, führte zur intensiven Erforschung des chaotischen Verhaltens von physikalischen Systemen.

Pionierin ihres Fachs

Mary Cartwright ist 1947 die dritte Frau, die als Fellow in die Royal Society aufgenommen wurde. 1948 ließ die University of Cambridge endlich auch Frauen als Vollmitglieder zu, das Girton College erhielt den Status eines College der Universität, und Mary Cartwright wurde zur Leiterin des College ernannt – ein Amt, das sie mit großer Hingabe ausfüllte: Für die Studentinnen war sie stets ansprechbar. Vor der Übernahme des neuen Amtes verbrachte sie noch einige Monate als Gastprofessorin in Stanford, in Princeton und an der University of California in Los Angeles.

Trotz der Belastung des neuen Amtes hielt sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1968 weiterhin Vorlesungen, insbesondere über Funktionentheorie. Außerdem betreute sie acht Doktoranden. Zu ihren zahlreichen Leistungen gehörte unter anderem ein Beweis, dass π eine irrationale Zahl ist, durch den der Beweis von Charles Hermite deutlich vereinfacht wird.

In den Jahren 1961 bis 1962 war sie – die bisher einzige – Präsidentin der London Mathematical Society, von der sie 1968 mit der De-Morgan-Medaille geehrt wird. Wegen ihrer vielfältigen Beiträge zur Analysis reeller und komplexer Variabler erhielt sie 1964 als erste Frau die Sylvester-Medaille der Royal Society.

Als die humorvolle, selbstbewusste, aber stets bescheiden auftretende Wissenschaftlerin in den Ruhestand trat, wurde sie für ihre Verdienste von Königin Elisabeth II. in den nichterblichen Adelsstand erhoben (Dame Mary Cartwright, Commander of the Order of the British Empire). Nach ihrer Emeritierung übernahm sie verschiedene Gastprofessuren und war als Mitherausgeberin der gesammelten Werke von Hardy tätig.

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