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Der Mathematische Monatskalender: Mit Statistik gegen rechte Gewalt – der Pazifist Emil Julius Gumbel

Zur Beschreibung von Extremwetterereignissen greifen Fachleute auf die Theorie eines Mannes zurück, der nicht nur gegen Naturgewalten, sondern auch gegen politische Unwetter kämpfte: Emil Gumbel.
Abstrakte Darstellung wellenförmiger Strukturen in lebendigen Farben. Die Wellen verlaufen von links nach rechts und zeigen eine Farbpalette von Blau über Lila, Pink, Orange bis Gelb. Jede Welle besteht aus feinen, parallelen Linien, die eine dynamische Bewegung suggerieren. Der Hintergrund ist in einem sanften Blau gehalten, das in den oberen Bereich des Bildes übergeht. Die Komposition vermittelt ein Gefühl von Energie und Fluss.
Mit Statistik lassen sich viele Phänomene aus der realen Welt beschreiben – von Extremwetterereignissen bis hin zu rechter Gewalt.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

Auch wenn manch einer es nicht wahrhaben mag: In den letzten Jahren häufen sich die Meldungen über Extremwetterereignisse, über Dürreperioden und Überschwemmungen, über Monsterwellen und Wirbelstürme. Extremes Wetter führt zu extremen Kosten. Allein die europaweiten Überschwemmungen im Sommer 2002 haben die Versicherungsfirmen etwa 2,5 Milliarden Euro gekostet.

Die Untersuchung dieser Phänomene, insbesondere deren Risiko- und Kostenabschätzung, sind wichtige Forschungsaufgaben der Hydrologie, der Ozeanografie, der Versicherungswirtschaft und weiterer Fachrichtungen.

Während sich die mathematische Statistik üblicherweise mit Mittelwerten und den Streuungen um diese Mittelwerte beschäftigt, werden in der so genannten Extremwerttheorie (kurz: EVT, nach der englischen Bezeichnung extreme value theory) die Extrema untersucht – es geht also um Modellierungen des unteren und des oberen Endes der Verteilungen der Extremwerte.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es hierzu isolierte, voneinander unabhängige Veröffentlichungen von Mathematikern in Frankreich, Schweden und in der Sowjetunion: Maurice René Fréchet, Ernst Hjalmar Waloddi Weibull und Boris Vladimirovich Gnedenko. Diese Ansätze wurden wiederentdeckt und weiterentwickelt durch einen deutschen Mathematiker, der schließlich im Jahr 1958 in New York ein zusammenfassendes Buch veröffentlichte, das immer noch als Standardwerk der Disziplin gilt und mehrfach nachgedruckt wurde. Autor der »Statistics of Extremes« war der deutsche Mathematiker und Publizist Erich Julius Gumbel.

Nach Gumbel ist auch eine der möglichen stetigen Wahrscheinlichkeitsverteilungen benannt, mit der beispielsweise die Verteilung des Höchststandes eines Flusses modelliert werden kann, wenn Ergebnisse aus einem gewissen Zeitraum vorliegen. Sie ist nützlich für die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass eine Überschwemmung eintreten könnte, wenn die Höhe der vorhandenen Dämme nicht verändert wird. Die Dichtefunktion \ (f(x) = \exp\left(-(x+e^{-x})\right) \) der so genannten Standard-Gumbel-Verteilung wird auch als doppelte Exponentialverteilung bezeichnet.

Die Grausamkeit des Krieges und erster Widerstand

Erich Julius Gumbel wurde 1891 als erstes von drei Kindern des jüdischen Privatbankiers Hermann Gumbel und seiner Frau Flora in München geboren. Nach dem Besuch des Wilhelmsgymnasiums studierte er ab 1910 die Fächer Mathematik und Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität, unter anderem bei Alfred Pringsheim und bei dem angesehenen Nationalökonomen und Sozialreformer Ludwig Josef Brentano, der noch 1914 einen Krieg wegen der internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen für ausgeschlossen hielt. Eine Woche vor Ausbruch des Weltkriegs wurde Gumbel mit Bestnote promoviert.

In der allgemeinen Kriegsbegeisterung meldete er sich freiwillig an die Front, nahm aber bald mit Entsetzen die Realität wahr, insbesondere als die deutschen Truppen im kriegsneutralen Belgien die Universitätsstadt Löwen (Leuven, Louvain) verwüsteten und die berühmte historische Bibliothek zerstörten.

Anfang 1915 wurde er wegen einer akuten Atemwegsinfektion vorübergehend vom Militärdienst befreit, ging nach Berlin und belegte an der dortigen Universität Kurse in Statistik; gleichzeitig trat er dem Bund Neues Vaterland bei, einer gemäßigt sozialistischen Vereinigung, die sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzte. Hier lernte er unter anderem auch Albert Einstein kennen, dessen Physikvorlesungen er von da an besuchte. 1916 wurde er zwar wieder zum Kriegsdienst verpflichtet (als Flugzeugtechniker und bei Telefunken), scheute sich jedoch nicht, zunehmend pazifistische Parolen zu verbreiten. 1917 trat er der USPD um Karl Liebknecht bei.

Nach der Flucht des Kaisers warb Gumbel für einen republikanischen Neubeginn durch eine verfassungsgebende Nationalversammlung; er schrieb zahlreiche Artikel, in denen er mit den Eliten des alten Regimes abrechnete, die ihre Herrschaftsansprüche auch nach der deutschen Kapitulation aufrechterhalten wollten und bei Deutschland keinerlei Kriegsschuld sahen. Selbsternannte Freikorps griffen in die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Deutschland ein. Im Januar 1919 wurden unter anderem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Gründer der Kommunistischen Partei, ermordet. Diesem Schicksal entging Gumbel nur deshalb, weil er zum Zeitpunkt seiner geplanten Ermordung eine Konferenz des Völkerbundes in Bern besuchte; seine Wohnung wurde verwüstet. Bei einer Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft wurde er zusammengeschlagen.

Gumbel verfasste Texte für die Wochenzeitschrift »Die Weltbühne«, arbeitete mit dem Publizisten Carl von Ossietzky zusammen (Friedensnobelpreis 1936), übersetzte pazifistische Texte Bertrand Russells und veröffentlichte diese im Jahr 1922, mit einem Vorwort Albert Einsteins.

Das Dokument deutscher Schande

Mit seinen Dokumentationen »Vier Jahre Lüge« über die systematischen Falschinformationen durch die Verantwortlichen des Kaiserreichs während des Weltkriegs und »Zwei Jahre Mord« über die politischen Morde danach versuchte Gumbel die Öffentlichkeit aufzurütteln, insbesondere die Abgeordneten des Reichstags. Als eine geforderte Stellungnahme des Reichsjustizministers – angeblich wegen Papiermangels und fehlender finanzieller Mittel – nicht veröffentlicht wurde, publizierte Gumbel seine nächste Schrift: »Vier Jahre politischer Mord«. Kurt Tucholsky bezeichnete das akribisch recherchierte Werk als »Dokument deutscher Schande«.

Gumbel listete detailliert 376 politisch motivierte Morde auf – mit den Namen der Täter und der Verantwortlichen im Hintergrund sowie die Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden. Davon geschahen 354 Morde durch rechte Gruppierungen (unter anderem die Ermordungen von Finanzminister Matthias Erzberger und Außenminister Walther Rathenau) und 22 Morde von linken Tätern.

Während etliche Verfahren gegen rechtsterroristische Täter verschleppt wurden oder mit geringfügigen Strafen endeten (326 Verfahren wurden nicht eröffnet oder endeten mit Freispruch, 24 Täter wurden zu Gefängnisstrafen von durchschnittlich 4 Monaten oder zu Geldstrafen von durchschnittlich 2 Reichsmark verurteilt), wurden 10 Täter des linken Spektrums zum Tode verurteilt, 18 erhielten Gefängnisstrafen von durchschnittlich 15 Jahren).

Gumbel hatte wegen seiner Schrift eigentlich zumindest mit Verleumdungsklagen gerechnet – doch nichts geschah, allerdings wurden auch keine Verfahren wieder aufgerollt.

1923 habilitierte sich Gumbel an der Universität Heidelberg mit seiner Arbeit »Theorie der statistischen Verteilungsfunktion« und erhielt damit die Lehrberechtigung für mathematische Statistik. Zunächst verlief seine Arbeit als Dozent ohne weiteres Aufsehen, bis er sich bei einer Gedächtnisfeier am 26. Juli 1924, dem zehnten Jahrestag des Beginns des Weltkriegs, gegen eine Verherrlichung des Soldatentods äußerte: Für ihn war das Schlachtfeld kein »Feld der Ehre« sondern der Unehre – schließlich kamen dort unschuldige Menschen »auf grässliche Weise ums Leben«. Von da an wurden seine Lehrveranstaltungen und öffentlichen Vorträge regelmäßig durch nationalistische Gruppen gestört (in der Presse als »Gumbel-Krawalle« bezeichnet).

Ein Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen

Wegen seiner Äußerungen wurden mehrfach Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, diese blieben aber zunächst ohne Folgen. Als er jedoch 1930 wegen seiner unbestrittenen wissenschaftlichen Qualifikation und jahrelanger Bewährung als Dozent eine außerordentliche Professur erhalten sollte, rief der Nationalsozialistische Studentenbund zum »Kampf um die Säuberung der Hochschule« auf. Eine Äußerung Gumbels brachte dann das Fass zum Überlaufen: In Anspielung auf den Hungerwinter 1916/17 äußerte er die Meinung, dass als Symbol für ein Kriegerdenkmal eine große Kohlrübe besser passen würde als eine »leicht bekleidete Jungfrau mit Siegespalme«.

Jetzt beugte sich auch die Universität dem Druck von rechts und entzog Gumbel die Lehrerlaubnis – wegen »Unwürdigkeit«. Gumbel, der seit Kurzem verheiratet war, verließ mit seiner Frau und deren Kind Deutschland, um an der Sorbonne eine Gastprofessur zu übernehmen. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP wurde er ausgebürgert, seine Schriften wurden verbrannt, sein Wirken »aus dem deutschen Gedächtnis gelöscht«. Seine Zeit im französischen Exil erlebte er als »wunderbare Jahre« – bis zum Einmarsch deutscher Truppen im Juni 1940.

Mit viel Glück gelang ihm die Flucht über Marseille und Lissabon in die USA, nachdem Einstein für ihn eine Einladung der Rockefeller Foundation vermittelt hatte. Doch es gab für ihn nur befristete Verträge, unter anderem an der New School of Social Research in New York oder als Gutachter.

Nach dem Krieg bemühte er sich um eine Rückkehr nach Deutschland; in Heidelberg aber war er unerwünscht, nur die Freie Universität in Berlin bot ihm eine Gastprofessur an. 1953 erfolgte der Ruf an die Columbia University in New York; von da an widmete er sich nur noch der Wissenschaft. 1966 starb Erich Gumbel an Lungenkrebs. Ein Nachruf erschien in Deutschland erst zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 1991.

Emil Julius Gumbel

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