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Kreidezähne: Fünf Fakten über bröselnde Zähne

Karies haben wir so einigermaßen im Griff – aber gibt es nun eine neue Zahnkatastrophe im Kindermund? Was es mit der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation auf sich hat und was man dagegen tun kann.
Zähneputzen

1. Was ist die MIH?

Zähne bröseln dahin, kaum haben sie das Licht der Welt erblickt: brüchiger Schmelz, Schmerzen beim Essen, beim Trinken. Das tägliche Zähneputzen wird zur Qual. Eine neue, noch weitgehend unbekannte Volkskrankheit macht sich breit, die folgenreich ist und zahntechnisch sowie kostenmäßig eine echte Herausforderung für das Gesundheitswesen sei, sagen Zahnärzte – und meinen damit die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH).

Für unsereins ist schon der Name der Erkrankung eine Herausforderung. Molaren nennt der Zahnarzt die Backenzähne im Gebiss. Der Begriff leitet sich vom lateinischen »molaris« für »Mühlstein« ab. Mit den größten, breitesten und am stärksten verwurzelten Zähnen zermalmen wir all das Essbare, das sich dank des kräftigen Bisses der Inzisiven, der Schneidezähne, in unserer Mundhöhle angesammelt hat.

Kreidezähne | Immer häufiger tritt bei Kindern eine mangelhafte Mineralisation der Zähne auf: Sie zerbröseln regelrecht.

»Die Bezeichnung MIH beschreibt, was wir im Mund sehen: Bestimmte Zähne im Gebiss sind weniger mineralisiert (Hypomineralisation)«, sagt Katrin Bekes vom Fachbereich Kinderzahnheilkunde an der Medizinischen Universität Wien. Klassischerweise sind die ersten bleibenden Backenzähne betroffen, mit oder ohne Beteiligung der Schneidezähne. Sie sind schon beim Durchbrechen in die Mundhöhle des kindlichen Gebisses defekt, weil der Zahnschmelz fehlerhaft gebildet wurde.

Selbst nach einem tadellosen Milchzahngebiss kann dann plötzlich ein brauner bleibender Backenzahn im Mund eines sechsjährigen Kindes auftauchen. Das Ausmaß des Schadens variiert: An manchem Zahn zeigen sich weiße bis gelblich braune Verfärbungen nur an vereinzelten Stellen der Kauflächen, bei anderen sind einzelne Höcker betroffen oder sogar großflächig die ganze Zahnkrone. Je dunkler die Stelle, desto niedriger ist der Mineralgehalt und desto schwächer ist der Schmelz. Hypomineralisierte Zähen sind nicht nur optisch ein Problem. »Sie sind weicher und poröser und deshalb mechanisch nicht belastbar. Der Schmelz kann auf Grund der verminderten Härte im Rahmen der Kauprozesse abplatzen«, sagt Bekes.

30 Prozent aller Zwölfjährigen betroffen

Je stärker die Zähne betroffen sind, desto unangenehmer wird es für das Kind. Dort, wo der Schmelz weggebrochen ist, liegt das Dentin (Zahnbein) offen und reagiert empfindlich auf Temperaturreize, mechanische Belastungen und chemische Stimuli. Süßes oder Kaltes kann dann nur unter Schmerzen gegessen werden, das Zähneputzen wird zum täglichen Familiendrama, die Zahngesundheit verschlechtert sich noch mehr.

»Wir sehen die MIH heute häufiger als früher«, sagt Roland Frankenberger, Professor für Zahnerhaltung an der Philipps-Universität Marburg. Jedes Jahr sind weltweit rund 17,5 Millionen Kinder neu betroffen, für das Jahr 2015 errechnet eine aktuelle Studie, dass 878 Millionen Menschen auf der Welt an der MIH leiden. In Deutschland findet man laut der 5. Deutschen Mundgesundheitsstudie die MIH (in sehr unterschiedlicher Schwere) inzwischen bei etwa 30 Prozent der Zwölfjährigen.

Ob die MIH tatsächlich eine neue Erscheinung ist, die epidemisch auftritt, oder ob es sie schon länger gibt, ist unklar. Die ansteigenden Fallzahlen mögen wenigstens teilweise auch der erhöhten Aufmerksamkeit geschuldet sein. Die MIH wurde 1987 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben. Bei einer Konferenz europäischer Zahnärzte im Jahr 2003 bekam die Erkrankung dann ihren unhandlichen Namen verpasst. Womöglich seien früher Zähne häufig als von Karies befallen eingestuft und behandelt worden, obwohl eigentlich eine MIH vorlag, sagt Katrin Bekes. Heute sei das Wissen über die Erkrankung größer, MIH werde eher erkannt.

2. Wie entsteht sie?

Wichtig: Die MIH ist eine Entwicklungsstörung des Zahnes, sie hat nichts mit vernachlässigter Zahnhygiene zu tun. Wenn ein Backenzahn mit braunen Verfärbungen durchbricht, fragen sich manche Eltern, was sie falsch gemacht haben. Nichts! Selbst Zahnarztkinder seien betroffen, und deren Eltern müssten es ja wissen, kommentiert Roland Frankenberger.

Ein Zahn besteht aus mehreren Schichten. Um das Dentin lagert sich die Schmelzschicht an, die von schmelzbildenden Zellen, den Ameloblasten, gebildet wird. Je nachdem, wann der Zahn durchbricht, geschieht das vom etwa achten Schwangerschaftsmonat bis zum fünften Lebensjahr des Kindes. Der Zahnschmelz ist ein einzigartiges Material, das man so nirgends sonst im Körper findet. Er ist extrem hart und gleichzeitig flexibel. Das ist der besonderen Zusammensetzung des Schmelzes geschuldet, der zu 95 Prozent aus Mineralkristallen (Hydroxylapatit), zu 4 Prozent aus Wasser und nur zu einem winzigen Rest aus organischem Material und keinen Zellen besteht.

Die Ameloblasten heften sich zur Schmelzbildung an das Zahnbein und ersetzen nach und nach organisches Material durch mineralische Kristalle. Bei der MIH entsteht nun an der einen oder anderen Stelle kein stabiles Kristallgitter. Der Schmelz hat nicht die gewohnte Stärke, enthält weniger Mineralstoffe, dafür mehr Proteine. Letztere, wie das Albumin, sind häufig aus dem Blut eingewandert und sorgen für die Dunkelfärbung der Schadstellen.

Der Zahnschmelz wird nur einmal im Leben gebildet. Ist die Arbeit getan, bilden sich die Ameloblasten zurück und verschwinden spätestens mit dem Durchbruch des Zahns komplett von der Bildfläche. Von da an muss man mit dem leben, was man hat.

3. Was wissen wir darüber noch nicht?

Die Zahnschmelzbildung, die Amelogenese, ist ein komplizierter Prozess und empfindlich für Störungen. Was bei der MIH genau den löchrigen, brüchigen Schmelz verursacht, ist noch unbekannt. In der Vergangenheit hat man bei der Ursachenforschung hauptsächlich die Eltern befragt. Doch die Ergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen. Wenn etwa die Backenzähne mit sechs Jahren durchbrechen, liegen die Ereignisse, die die Schmelzbildung gestört haben, rund sechs Jahre zurück. Die Frage ist, wie genau und an was sich die Eltern da noch erinnern können.

Dank solcher retrospektiven Untersuchungen, aber auch durch ein paar wenige Studien am Tier oder an Zellkulturen im Labor, gibt es aktuell einen Kreis von Verdächtigen. Die schmelzbildenden Zellen, die Ameloblasten, reagieren zum Beispiel sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel. Zu wenig Sauerstoff unter der Geburt oder auch später könnte daher eine Ursache der Hypomineralisation sein. Ebenso können schwere Infektionen in den ersten drei Lebensjahren, besonders auch Infektionen der Atemwege und Asthma, die Schmelzbildung stören.

Der Mineralstoffwechsel des Körpers ist auf ein intaktes Funktionieren der Niere und des Darms angewiesen. Machen diese beiden Organe Probleme, etwa wegen Durchfall oder einer chronischen Darm- oder Nierenerkrankung, oder ist der Körper aus welchem Grund auch immer mangelernährt, steht womöglich nicht genügend Kalziumphosphat für den Einbau in den Schmelz zur Verfügung.

»Im Praxisalltag sehen wir die MIH gehäuft bei Kindern, die in den kritischen Phasen der Schmelzbildung Infekte hatten und/oder ein Antibiotikum bekommen haben«, sagt Katrin Bekes. Zwar bekomme nicht jedes Kind, das ein Antibiotikum erhalten habe, bröselige Backenzähne. Dennoch seien die Medikamente ein heißer Kandidat. In Laborstudien, bei denen man die sich entwickelnden Zahnkeime von Mäusen mit unterschiedlichen Antibiotikakonzentrationen zusammengebracht hätte, zeigten sich zum Beispiel Schmelzstörungen, berichtet die Wiener Professorin.

»Im Praxisalltag sehen wir die MIH gehäuft bei Kindern, die in den kritischen Phasen der Schmelzbildung Infekte hatten und/oder ein Antibiotikum bekommen haben«Katrin Bekes

Als weitere mögliche Ursache werden Weichmacher wie Bisphenol A diskutiert. Mit dieser Substanz sind heutzutage wegen seiner breiten Anwendung (Verpackungsmaterial) mehr als 95 Prozent der Bevölkerung belastet. Doch macht der Weichmacher auch die Zähne weich? Es gibt epidemiologische Hinweise (paralleler Anstieg der Bisphenol-A-Belastung und der Häufigkeit von MIH) und einen dünnen Beweis aus Tierexperimenten. Französische Forscher vom Institut für molekulare orale Pathophysiologie an der Université Paris-Descartes belasteten Rattennachwuchs während verschiedener Phasen ihrer Entwicklung mit Bisphenol A. Der Schmelz war nur dann geschädigt, wenn die Tiere beim Kontakt zur Chemikalie vier Wochen alt waren. Dort liegt genau das empfindliche Zeitfenster, in dem bei Ratten der Zahnschmelz für Backen- und Schneidezähne gebildet wird.

Es gibt verschiedene Vermutungen, bei allen Ansätzen sei die genaue Entstehungsgeschichte der MIH jedoch noch weitgehend ungeklärt, sagt Norbert Krämer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde. »Sich auf einen der diskutierten Faktoren zu versteifen, wäre Kaffeesatzleserei«, meint auch Roland Frankenberger. Offensichtlich müsse sich in den letzten 20 Jahren aber etwas geändert haben, da man die MIH heute öfter sehe als früher.

Katrin Bekes geht davon aus, dass es die eine Ursache für die MIH nicht gebe, sondern dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich sei. »Dennoch brauchen wir jetzt klinische Studien, prospektive Studien, von der Schwangerschaft bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr des Kindes, um bei einer Mineralisationsstörung klarer auf mögliche Ursachen schließen zu können.« Denn: Solange nichts Genaues über die Ursachen bekannt ist, gibt es keine Prävention. Die großen Erfolgsgeschichten der Zahnmedizin (Bekämpfung von Karies, der Zahnfluorose, der Tetrazyklin-Zähne) gründen sich auf handfeste klinische und experimentelle Studien.

Erste Zähnchen | Die Ursache für die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation liegt vermutlich schon in einer Zeit, bevor die ersten Zähne durchbrechen. Die MIH ist so schwierig zu entdecken, weil die Verfärbungen teilweise erst bei den ersten bleibenden Zähnen auftauchen.

4. Kann man die MIH behandeln?

»Die Therapie der MIH beherrschen wir mittlerweile ganz gut«, berichtet Roland Frankenberger. »Wie wir behandeln, hängt sehr vom Schweregrad ab.« Sind die Zähne nur leicht betroffen, müsse man sie gut beobachten und mit geeigneten fluoridhaltigen Kinderzahnpasten unterstützen. Die Rillen und Furchen machen die Zähne besonders kariesanfällig, der defekte Schmelz bietet den Kariesbakterien optimale Bedingungen, um sich anzuheften. Für die betroffenen Kinder heißt das: regelmäßige Zahnarztbesuche, einmal im Quartal zur Kontrolle, zweimal zur Intensivprophylaxe, wo die Zähne gereinigt und mit einem Fluoridlack versehen werden.

»Wenn die Zähne brüchig und überempfindlich sind, muss man Füllungen machen. Sonst entwickelt sich eine Negativspirale«, erklärt Frankenberger – wenn allein das Zähneputzen schon weh tut, wird schlecht geputzt, die Zähne leiden weiter. Kniffelig ist, die Größe der Füllung abzuschätzen, da die Zahnhartsubstanz oft erweicht, aber (noch) nicht von Karies befallen ist. Die Füllung aus einem Spezialzement dichtet die Lücken ab, das Kind kann wieder schmerzfrei essen und Zähne putzen.

Ist die Zahnkrone dagegen schon sehr stark weggebröselt, können die Ärzte zur Abdeckung des Schadens vorübergehend eine Stahlkrone einsetzen. Wenn das Zahn- beziehungsweise Kieferwachstum dann komplett abgeschlossen ist, kann diese Zwischenlösung durch eine Keramikkrone ersetzt werden. Hat es einen Zahn jedoch sehr schlimm getroffen und ist der Nerv bereits geschädigt, muss der Zahn gezogen werden. Das sollte möglichst früh (vor dem achten bis zehnten Lebensjahr) geschehen, damit die anderen Zähne im Gebiss die Lücke während all der Wachstums- und Wanderbewegungen im kindlichen Kiefer noch schließen können. Zahnärzte empfehlen für diese Aktion (die ersten Backenzähen sind die größten und stark verwurzelten Zähen im Gebiss) eine Vollnarkose.

5. Was bedeutet das für das Kindergebiss?

Es kann sein, dass Kinder mit MIH wegen der Empfindlichkeiten und Schmerzen, die sie rund um das Thema Zähne empfinden, ein sehr kompliziertes Verhältnis zur Zahnbürste und zum Zahnarzt entwickeln. Je früher jedoch Eltern und Kind den Fachmann aufsuchen, desto besser!

Bei etwa 4 von 100 Patienten muss der erste bleibende Backenzahn wegen der MIH gezogen werden. Auch hier gilt: möglichst früh. Wird der Zahn zu spät gezogen, können die benachbarten Zähne die Lücke nicht mehr so passgenau schließen, eine kieferorthopädische Behandlung wird nötig. Und die kann problematisch werden – zumindest wenn mit einer festen Spange gearbeitet werden soll. Beim Anbringen der Brackets wird der Zahnschmelz üblicherweise abgeätzt, um zwischen den Zahnschmelzkristallen Platz zu schaffen, damit der Kleber, ein Harz, sich fest mit der Zahnoberfläche verbinden kann.

Bei der MIH ist der Schmelz in seiner Struktur ohnehin verändert. Das hat zur Folge, dass das Harz nicht so stark binden kann. Am Ende der kieferorthopädischen Behandlung entfernt der Arzt die Brackets. Wenn ein MIH-Zahn vom harzigen Bindungsmaterial befreit wird, muss man besondere Vorsicht walten lassen. Denn die Wahrscheinlichkeit für zusätzliche Schäden am Schmelz ist groß, winzige zusätzliche Brüche, Mikrofrakturen, können auftreten. Und damit ist dem Kind dann auch nicht geholfen.

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