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Der Mathematische Monatskalender: Oskar Perron und der Widerstand gegen die Nazis

Der Mathematiker leistete nicht nur in seinem Fach Großes, sondern auch menschlich: Er weigerte sich, den Anweisungen der NS-Regierung zu folgen und einige Kolleginnen und Kollegen auszuschließen.
Eine Gruppe weißer Pfeile zeigt nach rechts auf einem blauen Hintergrund. Ein gelber Pfeil in der Mitte zeigt nach links, was symbolisch für Andersdenken oder Individualität steht.
Perron war alles andere als ein Mitläufer.

Oskar Perron stammt aus einer Familie von ehemaligen Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1698 nach Deutschland ausgewandert waren. Einer der Vorfahren hatte sich in Frankenthal (Pfalz) niedergelassen. Oskars Vater betrieb dort zunächst einen Lederhandel, später gründete er eine Bank, in die sein 1880 geborener Sohn Oskar einmal einsteigen sollte. Nach dem Besuch der Volksschule und einer Lateinschule wechselte der Junge an das Humanistische Gymnasium in Worms, wo er 1898 erfolgreich die Abiturprüfung ablegte.

Bereits während seiner Schulzeit hatte Oskar ein besonderes Interesse an den Fächern Mathematik und Physik gezeigt und konnte schließlich seinen Vater davon überzeugen, ein Studium dieser Fächer aufnehmen zu dürfen.

An der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) München besuchte Oskar Perron die Vorlesungen von Ferdinand von Lindemann und von Alfred Pringsheim, dessen »peinliche Genauigkeit« ihn prägten. Wie damals üblich wechselte auch er für einzelne Semester die Universität und schrieb sich in Berlin ein (Georg Frobenius, Lazarus Fuchs, Hermann Amandus Schwarz) sowie in Tübingen und in Göttingen (David Hilbert).

Nach bestandenem Lehramtsexamen wurde er 1902 mit dem Thema »Über die Drehung eines starren Körpers um seinen Schwerpunkt bei Wirkung äußerer Kräfte« an der Universität München mit Auszeichnung promoviert (Doktorvater: Lindemann), 1906 folgte die Habilitation (»Grundlagen für eine Theorie des Jacobischen Kettenbruchalgorithmus«) und anschließende Tätigkeit als Privatdozent. 1910 wurde Perron zum Außerordentlichen Professor in Tübingen ernannt, 1914 zum Ordinarius in Heidelberg, nicht zuletzt aufgrund der Veröffentlichung des Werks »Die Lehre von den Kettenbrüchen« im Jahr zuvor.

Seine Lehrtätigkeit wurde nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs unterbrochen; er wurde zum Wehrdienst im »Landsturm« (Reserveeinheit) an der Ostfront eingezogen; später war er in der Vermessungsabteilung des Heeres tätig.

Nach der Emeritierung Pringsheims wurde Perron 1922 zu dessen Nachfolger an der LMU München ernannt; von den drei Professoren der Hochschule, Constantin Carathéodory, Heinrich Tietze und Oskar Perron, sprach man bald allgemein als vom »Münchener Dreigestirn der Mathematik«.

Durch seine Arbeiten auf verschiedenen Fachgebieten (insgesamt 218 Veröffentlichungen!) erwarb Perron internationales Ansehen; für seine Verdienste wurde er vielfach geehrt – durch Mitgliedschaften in Akademien von Heidelberg und Göttingen, der Leopoldina, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und durch Ehrendoktorwürden der Universitäten Mainz und Tübingen.

Standardwerke bis heute

Neben Beiträgen zur Integralrechnung (das sogenannte Perron-Integral stellt eine Verallgemeinerung des Integralbegriffs von Lebesgue dar), zur Summation unendlicher Reihen (sogenannte Perronsche Formel) und zu Differenzialgleichungen (unter anderem Lösung mithilfe numerischer Methoden) ist insbesondere der Satz von Perron-Frobenius zu nennen, der sich mit Matrizen mit lauter positiven Elementen beschäftigt, wie sie unter anderem bei Populationsprozessen und Markow-Ketten auftreten. (Ferdinand Georg Frobenius verallgemeinerte Perrons Ergebnisse auf nichtnegative Matrizen.)

Seine Lehrbücher gelten auch heute noch als mustergültig. Insbesondere das Werk »Irrationalzahlen« (Auflagen: 1910, 1921, 1947, 1960), das wegen der Anschaulichkeit und der zahlreichen Beispiele für Studienanfänger besonders geeignet ist, sowie »Die Lehre von den Kettenbrüchen« (1913, 1929, 1954/1957 in zwei Bänden), ein bis heute viel zitiertes Referenzwerk in der Zahlentheorie, zählen zu den Klassikern der mathematischen Fachliteratur und wurden immer wieder unverändert nachgedruckt. Neben diesen beiden Büchern sind auch die zwei Bände zur »Algebra« zu erwähnen (1927 und 1950) sowie die »Nichteuklidische Elementargeometrie der Ebene« – ein Werk, das Perron im Alter von 82 Jahren verfasste und seiner im Jahr zuvor verstorbenen Frau widmete. Oskar Perron war seit 1906 verheiratet, seine Frau Hermione Perron war eine entfernte Verwandte. In der glücklichen Ehe wurden drei Töchter geboren, die sich um ihren Vater kümmerten, als seine Frau 1961 starb.

Als die Allierten nach Kriegsende versuchten, die Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung durchzuführen, schrieb Perron in seinen Meldebogen: »Ich war kompromissloser Gegner der Nazis. Im Kampf gegen die Verseuchung der Universität mit Nazis hatte ich manchmal Erfolg, aber meistens nur Ärger.«

In der Tat gehörte er zu den wenigen Hochschullehrern, die sich bemühten, den von ihnen verantworteten Bereich von politischen Einflüssen möglichst freizuhalten und die Gleichschaltung zu verhindern. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, war Perron der aktuelle Vorsitzende der DMV (Deutsche Mathematiker-Ver­einigung). Nach dem Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 verloren zahlreiche Hochschullehrer wie Richard Courant und Emmy Noether ihre Stellen beziehungsweise ihre Lehrbefugnis. Perron weigerte sich bis zum Ende seiner Präsidentschaft, die Mitgliederlisten zu »säubern«, also diese Personen aus der DMV auszuschließen. Solange wie möglich versuchte er, die Vereinigung politisch neutral zu halten, ein Ausschluss wegen Religionszugehörigkeit oder Herkunft war für ihn nicht akzeptabel.

In den Vorstandssitzungen geriet er daher regelmäßig mit dem fachlich zwar hoch­kompetenten, aber ideologisch äußerst fanatischen Ludwig Bieberbach aneinander. Dessen Ansichten (»Es gibt eine deutsche Mathematik, die in Art und Wesen von der jüdischen Mathematik grundverschieden ist. Die deutsche Mathematik ist getragen von der Anschauung, von der inneren Verbundenheit mit Raum und Zahl; die jüdische ist formalistisch, spekulativ, losgelöst von der Wirklichkeit«) lehnte er vehement ab. Nach dem regulären Ende der DMV-Präsidentschaft Perrons erfolgte ab 1934 unter dem nachfolgenden Präsidenten Helmut Hasse eine »Anpassung im Sinne der neuen Zeit«.

Der weltweit anerkannte Algebraiker Helmut Hasse wurde 1948 von der Entnazifizierungskommission als »Mitläufer« des NS-Regimes eingestuft und galt damit als entlastet. Ludwig Bieberbach zeigte dagegen wenig Einsicht hinsichtlich seines Verhaltens und seiner politischen Einstellung; nach seinem Widerspruch wurde er 1949 zwar ebenfalls als Mitläufer eingeordnet, erhielt jedoch keine Lehrerlaubnis mehr.

Perron galt als politisch unzuverlässig, nicht nur, weil er konsequent den Hitlergruß verweigerte; wegen seines großen Ansehens wagte das Regime allerdings nicht, konkrete Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Als 1944 ein Nachfolger für Constantin Carathéodory gesucht wurde, setzte er die Berufung von Eberhard Hopf durch, der dem NS-Regime nicht nahestand, dafür aber fachlich qualifiziert war. Mutig war mit Sicherheit sein Umgang mit einer Einladung des Reichsdozentenbund­führers zu einer akademischen Feier an der Universität München im Jahr 1939:

»Da ich weder Mitglied einer Dozentenbundsakademie noch überhaupt des Dozentenbundes bin, kann meine Beteiligung wohl nur in der Rolle eines wissenschaftlichen Ehrengastes gedacht sein. Nun bin ich aber Mitglied verschiedener deutscher wissenschaftlicher Akademien, und gegenüber diesen Körperschaften und ihren Mitgliedern hat der Reichsdozentenbundsführer in der Festrede bei Gründung der Dozentenbundsakademie Kiel seiner Verachtung dadurch Ausdruck gegeben, dass er erklärte, die deutschen Akademien hätten seit Leibniz wissenschaftlich nichts geleistet und seien heute nur als Gesellschaften von verkalkten wissenschaftlichen Veteranen anzusehen. Zweierlei ist denkbar. Entweder der Reichsdozentenbundsführer hat mit dieser geringen Ein-schätzung recht oder er hat nicht recht. Im ersten Fall kann es dem Reichsdozentenbundsführer gewiss keine Freude machen, unter seinen Ehrengästen so minderwertige wissenschaftliche Persönlichkeiten zu sehen; ich möchte ihm diesen Anblick, was meine Person anbelangt, jedenfalls ersparen. Im zweiten Fall kann es aber mir nicht zugemutet werden, Ehrengast bei einem Mann zu sein, der die Akademien und ihre Mitglieder zu Unrecht derart verunglimpft hat, und vermutlich wehrlos zuzuhören, wenn die Ehrengäste abermals in der gleichen Weise verächtlich gemacht werden.«

Oskar Perron konnte nach 1945 seine Lehrtätigkeit sofort wieder aufnehmen, die er auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1950 weitere zehn Jahre lang fortsetzte. In den vielen Jahren seiner Tätigkeit betreute der allgemein geachtete und beliebte Hochschullehrer insgesamt 34 Doktoranden.

Zum Schluss sei noch das sognannte Perron-Paradoxon erwähnt, dessen Auflösung den Lesenden überlassen ist:

Die größte natürliche Zahl werde mit n bezeichnet. Wenn n > 1 wäre, dann würde folgen, dass n2 > n, was der Definition widerspricht. Folglich gilt: n = 1.

Mehr Infos zu Kettenbrüchen finden Sie im PDF:

Oskar Perron

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