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Der Mathematische Monatskalender: Der vergessene Mathematiker Pierre Wantzel

Es dauerte mehr als 100 Jahre, bis Wantzels bahnbrechende Beweise wahrgenommen wurden. Er zeigte unter anderem, dass manche geometrischen Probleme nicht lösbar sind.
Eine Person steht vor einer verschwommenen Stadtlandschaft am Wasser. Sie trägt einen dunklen Mantel und hält einen Hut, der das Gesicht verdeckt. Der Hintergrund zeigt eine neblige Skyline mit Wolkenkratzern.
Der Name Pierre Wantzel sagt kaum jemandem etwas, dabei hat er wichtige mathematische Beiträge geliefert.

Über zwei Jahrtausende lang bemühten sich Mathematiker vergeblich darum, vier klassische geometrische Probleme allein mit Zirkel und (unmarkiertem) Lineal zu lösen:

  • die Seitenlänge eines Würfels zu konstruieren, dessen Volumen doppelt so groß ist wie das des Einheitswürfels,
  • einen beliebigen Winkel durch Konstruktion in drei gleich große Teilwinkel zu unterteilen,
  • ein regelmäßiges Vieleck mit beliebiger Eckenzahl zu konstruieren,
  • ein Quadrat zu konstruieren, das flächengleich zum Einheitskreis ist.

Als 1837 ein 23-jähriger Franzose namens Pierre Wantzel die ersten drei dieser vier Probleme löste, indem er bewies, dass die Konstruktion grundsätzlich unmöglich ist, geschah dies ohne besonderes Aufsehen in der Wissenschaftsgemeinschaft. Dabei erschien sein siebenseitiger Beitrag in einer der angesehensten Zeitschriften der damaligen Zeit, dem »Journal de mathématiques pures et appliquées« (auch »Liouvilles Journal« genannt).

Noch 15 Jahre nach der Veröffentlichung dieses Beitrags tauschte sich William Rowan Hamilton mit Augustus de Morgan über die Frage aus, ob nicht doch vielleicht eines Tages eine Konstruktion gefunden werden könnte, einen beliebigen Winkel zu dritteln, hätte man doch »… vor 100 Jahren auch nicht geglaubt, dass man ein regelmäßiges 17-Eck konstruieren könne …«, was Carl Friedrich Gauß im Jahr 1796 gelungen war.

Selbst der Geometrie-Experte Felix Klein war sich noch Jahrzehnte danach unsicher, ob in der Zwischenzeit tatsächlich strenge Beweise veröffentlicht worden waren. In der »Encyklopädie der Elementar-Mathematik« von H. Weber und J. Wellstein aus dem Jahr 1905 heißt es noch: »Erst seit der Begründung der modernen Algebra durch Gauß und Abel kann streng bewiesen werden, daß die Dreiteilung des Winkels und die Konstruktion der regelmäßigen Vielecke nur in gewissen ausgezeichneten Fällen mit Zirkel und Lineal exakt durchführbar ist«, aber nicht, dass dies bewiesen wurde. Erst 1937, also genau 100 Jahre nach seiner Veröffentlichung, wird Pierre Wantzel in Johannes Tropfkes »Geschichte der Elementarmathematik« als der Erste bezeichnet, der exakte Beweise vorgelegt hat.

Dass es ein Jahrhundert lang gedauert hat, bis die Veröffentlichung Wantzels wahrgenommen wurde, hat verschiedene Gründe. Zum einen war der Autor kaum bekannt – und blieb es auch, da er nicht einmal 34 Jahre alt wurde. Zum anderen wurden diese Unmöglichkeitsbeweise wohl nicht als wichtig angesehen, hatte doch Gauß in seinen »Disquisitiones Arithmeticae« von 1801 hinsichtlich der Konstruierbarkeit der regelmäßigen n-Ecke gezeigt, dass sie allein mit Zirkel und Lineal möglich sind, wenn n sich als Produkt n=2rp1p2ps einer Zweierpotenz mit voneinander verschiedenen Fermat-Primzahlen (das sind Primzahlen der Form ps=22s+1, also 3, 5, 17, 257, …) darstellen lässt. Gauß behauptete, dass man keine anderen regelmäßigen n-Ecke konstruieren könne, allerdings verzichtete er – wie er schrieb – aus Platzmangel auf einen Beweis. Mit seinem Hinweis wollte er anderen die Mühe ersparen, nach einer Konstruktion zu suchen, die es seiner Überzeugung nach nicht gab. Insofern schien Wantzels Artikel wenig Neues zu enthalten, obwohl Gauß die Nichtkonstruierbarkeit für die anderen Ecken-Anzahlen gar nicht bewiesen hatte.

Als Ferdinand von Lindemann im Jahr 1882 dann bewies, dass die Quadratur des Kreises konstruktiv nicht möglich ist, galt das Thema der »klassischen Probleme des Altertums« in der mathematischen Forschung endgültig als abgeschlossen.

Trotz der Veröffentlichung Tropfkes wurden die Verdienste Pierre Wantzels auch in später erschienenen Mathematikbüchern oft nicht erwähnt. Eher neigten die Autoren dazu, Gauß, Abel oder sogar Lindemann pauschal die Ehre zuteilwerden zu lassen.

Ein kurzes Leben

Die Familie von Pierre Laurent Wantzel stammte väterlicherseits ursprünglich aus Deutschland. Sein Vater Frédéric war drei Monate vor Pierres Geburt im Jahr 1814 in die französische Armee eingetreten; dort diente er sieben Jahre lang. Während dieser Zeit lebte Pierre mit seiner Mutter bei deren Eltern in Ecouen nahe Paris. Nach der Rückkehr des Vaters übernahm dieser eine Tätigkeit als Mathematikprofessor an der École spéciale du commerce. Während seiner Grundschulzeit war Pierre bei seinem Lehrer untergebracht, der auch als Vermesser tätig war. Bereits hier zeigte sich seine außergewöhnliche Auffassungsgabe, konnte er diesem sogar dabei helfen, schwierige Ver­messungsprobleme zu lösen.

1826 wechselte Pierre an die École des Arts et Métiers in Châlons; hier fühlte er sich jedoch unwohl und wenig gefordert, da eher handwerkliche Fertigkeiten im Vordergrund standen. Nach inständigem Bitten erlaubte ihm sein Vater den Wechsel an eine Schule in Paris, deren Leiter ihm die fehlenden Latein- und Griechischkenntnisse vermittelte, bevor er endlich 1828 an das Collège Charlemagne wechseln konnte.

An der neuen Schule zeigten sich seine vielfältigen Begabungen: erste Preise beim schulinternen Latein- und Französisch-Wettbewerb, ein zweiter Preis beim Pariser Latein-Wettbewerb, dann erste Preise beim landesweiten Wettbewerb in Physik und Mathematik (Concours général). Seinen Mathematiklehrer unterstützte er, indem er die Druckfahnen zu dessen »Traité d'arithmétique« korrigierte.

Mit 18 Jahren absolvierte Pierre sowohl die Aufnahmeprüfung an der renommierten École polytechnique als auch an der École normale supérieure jeweils als Jahrgangsbester, was bis dahin noch niemandem gelungen war. Nach erfolgreichem Studium an der École polytechnique wechselte Wantzel 1834 an die École nationale des ponts et chaussées, was durchaus üblich war. Da er jedoch kein »mittelmäßiger Ingenieur« werden wollte, sondern sich intensiver mit Mathematik beschäftigen hoffte, wollte er sich beurlauben lassen – mit dem Ergebnis, dass er beauftragt wurde, an der Hochschule als Repetitor tätig zu werden. Diese Aufgabe übernahm er parallel auch an der École polytechnique, später wurde er von dieser Hochschule zusätzlich mit der Durchführung der Aufnahmeprüfungen beauftragt. Immer wieder übernahm er Vertretungsunterricht am Collège Charlemagne. Nachdem ihm 1840 der Titel eines Ingenieurs verliehen wurde, reiste er als Prüfer von technischen Einrichtungen durch das ganze Land, sich keine Pausen gönnend.

Ein rastloses Genie

Trotz der langen, anstrengenden Arbeitstage verfasste Wantzel eine Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen, etwa über das Krümmungsverhalten elastischer Stäbe und über Gesetze des Drucks von Flüssigkeiten, wie sie an den Kanalschleusen herrschen, zur Integration gewisser Integralgleichungen und nicht zuletzt seinen Beitrag zur Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal. 1845 veröffentlichte er noch eine Vereinfachung des Beweises von Niels Hendrik Abel über die Unmöglichkeit, Gleichungen fünften Grades allgemein durch Radikale zu lösen.

In seiner Rastlosigkeit bemerkte er nicht, wie er seine Gesundheit ruinierte; die Müdigkeit überwand er mit Kaffee und Opium, nahm nur unregelmäßig Mahlzeiten zu sich. Dies änderte sich kaum, nachdem er geheiratet hatte – er starb im Alter von nur 33 Jahren, ohne ausreichend für seine Witwe und die beiden Töchter vorgesorgt zu haben.

In seiner Schrift aus dem Jahr 1837 »Recherche sur les moyens de reconnaître si un problème de géométrie peut se résoudre à la règle et au compas« (Untersuchung von Möglichkeiten, um festzustellen, ob ein geometrisches Problem mit Lineal und Zirkel gelöst werden kann) hatte Wantzel den folgenden Satz bewiesen:

  • Eine reelle Zahl r (eine Strecke der Länge |r|) ist genau dann mit Zirkel und (unmarkiertem) Lineal konstruierbar, wenn sie eine irreduzible Gleichung vom Grad 2k (> 1) erfüllt.

Ausgehend von einer Einheitsstrecke auf dem Zahlenstrahl (x-Achse) führen die elementaren Konstruktionen, wie sie in Euklids »Elementen« beschrieben sind, im ersten Schritt zu Punkten, deren Koordinaten als Lösung einer linearen oder einer quadratischen Gleichung auftreten; in einem nächsten Konstruktionsschritt können nur Koordinaten auftreten, die Nullstellen von Polynomen ersten, zweiten oder vierten Grades sind und so weiter.

  • Die Verdopplung des Einheitswürfels führt zu einem Würfel mit Seitenlänge 23; das zugehörige Minimalpolynom ist x32, also ein Polynom dritten Grades.
  • Bei der Dreiteilung eines Winkels betrachtet man den Additionssatz cos(3α)=4cos3(α)3cos(α); zum Beispiel ist für 3α=60° und x=cos(α) die Gleichung 12=4x33x zu lösen, das zugehörige Minimalpolynom ist 8x36x1, also ein Polynom dritten Grades, für das keine rationale Lösung existiert.
  • Von den regelmäßigen n-Ecken ist beispielsweise das Siebeneck nicht konstruierbar, da hier für den Zentriwinkel a gilt: cos(3α)=cos(4α), also 4cos3(α)3cos(α)=8cos4(α)8cos2(α)+1. Mit x=cos(α) ergibt sich die Beziehung 4x33x=8x48x2+1, nach Division durch den Linearfaktor (x1) führt dies zu 8x3+4x24x1, wieder ein Polynom dritten Grades.

Pierre Wantzel

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