Der Mathematische Monatskalender: Richard Courant, der Mathematik-Vermittler
Richard Courant wuchs als ältester von drei Söhnen des jüdischen Geschäftsmanns Siegmund Courant und dessen Frau Martha in Oberschlesien auf. Als er neun Jahre alt war, zogen seine Eltern nach Breslau, wo er auf ein Gymnasium wechselte. Wegen des niedrigen Niveaus der zuvor besuchten Volksschulen hatte Richard zunächst einige Übergangsprobleme, auch in Mathematik.
Im Alter von 14 Jahren war er jedoch bereits in der Lage, regelmäßigen Nachhilfeunterricht an einem Mädchengymnasium zu erteilen, auch für Schülerinnen, die älter waren als er. Als seine Eltern nach einem tragischen Konkursverfahren – ein am Geschäft beteiligter Bruder des Vaters beging sogar Selbstmord – Breslau verließen und nach Berlin umzogen, blieb er vor Ort und bestritt die Kosten für seinen Lebensunterhalt selbst.
Im Schuljahr 1904/05 kamen einige seiner Schülerinnen in die Abschlussklasse – eine Stufe höher als seine. Die Lehrer seiner Schule übten daraufhin massiven Druck auf ihn aus, den Nachhilfeunterricht zu beenden: Es wäre für das öffentliche Ansehen des Mädchengymnasiums abträglich, wenn die angehenden Abiturientinnen von einem jüngeren Schüler auf ihre Prüfung vorbereitet werden könnten und nicht von ihren Lehrern.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Richard, der sich zuletzt im Unterricht nur noch gelangweilt hatte, meldete sich daraufhin von seiner Schule ab und besuchte Mathematik- und Physik-Vorlesungen an der Universität Breslau. Ein Jahr später trat er als »Externer« zur Abiturprüfung an – als Einziger der Kandidaten bestand er. Nun konnte er sein Studium offiziell fortsetzen.
Kritik an der akademischen Lehre
Mit den Vorlesungen seiner Professoren an der Universität Breslau war Courant nicht zufrieden; er erarbeitete sich die Inhalte selbstständig. Durch Otto Toeplitz, einen befreundeten Mitstudenten höheren Semesters, der sich in der Zwischenzeit an der Universität Göttingen eingeschrieben hatte, wurde Courant angeregt, den Studienort zu wechseln. Zusammen mit Nelly Neumann (eine seiner ehemaligen Nachhilfeschülerinnen) ging er an die ETH Zürich, wo die beiden die Vorlesungen von Adolf Hurwitz besuchten, die zwar perfekt angelegt waren, aber sie dennoch nicht begeisterten.
Während Nelly Neumann wieder nach Breslau zurückkehrte, wechselte Courant im Oktober 1907 nach Göttingen, wo er sich sehr schnell einlebte. Er besuchte Vorlesungen bei David Hilbert und Hermann Minkowski und wurde sogar zu deren gemeinsamem Seminar über Mathematische Physik zugelassen. Um Geld zu verdienen, gab er wieder Nachhilfeunterricht, unter anderem bei Hilberts Sohn, und fand so schnell Familienanschluss. Bereits Ende 1908 wurde er Hilberts Assistent; zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem das Ausarbeiten der Manuskripte von dessen Vorlesungen und das Redigieren der eingereichten Beiträge bei den »Mathematischen Annalen«, die Hilbert herausgab.
1910 promovierte Courant bei Hilbert mit dem Thema »Über die Anwendung des Dirichletschen Prinzips auf die Probleme der konformen Abbildung«, ein Thema aus der Variationsrechnung (nicht zu verwechseln mit dem dirichletschen Schubfachprinzip). Vor seiner Habilitation im Jahr 1912 leistete Courant den obligatorischen einjährigen Wehrdienst. Seine Antrittsvorlesung als Privatdozent hielt er über das Thema »Existenzbeweise in Mathematik«. Im Sommer heiratete er Nelly Neumann; die Ehe hielt nicht lange, sie wurde bereits 1916 wieder geschieden.
Zu Beginn des Weltkriegs wurde Courant von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfasst. Bevor es jedoch zum Fronteinsatz kam, infizierte er sich an Typhus. Nach seiner Gesundung durchlebte er die Hölle der Infanteriesoldaten in den Schützengräben an der Westfront. Während eines kurzen Heimaturlaubs nahm er Kontakt mit Physikern der Göttinger Universität auf, um Experimente bezüglich der Übermittlung von Nachrichten durch so genannte Erdtelegrafie durchzuführen. An der Front erlitt er eine schwere Verwundung; nach seiner Genesung wurde er wieder eingesetzt – diesmal im Hinterland, um Soldaten in der Nutzung der Geräte zur Erdtelegraphie zu schulen.
Noch während seiner Militärzeit knüpfte er Kontakte zum Verleger Ferdinand Springer und vereinbarte – für die Zeit nach dem Weltkrieg – seine Herausgeberschaft für die »Gelbe Reihe: Grundlehren der Mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen unter besonderer Berücksichtigung der Anwendungsgebiete«.
Nach dem Krieg abgehängt
Nach Kriegsende kehrte Courant nach Göttingen zurück; im Januar 1919 heiratete er Nina Runge, Tochter des Göttinger Mathematikers Carl Runge – standesamtlich, da keiner von beiden Anlass sah, zu konvertieren. Die Eheschließung wurde in der Familie der (christlichen) Braut nicht unbedingt gutgeheißen (»Ein Jude aus nicht besonders guter Familie, überdies geschieden und beruflich noch nicht etabliert …«).
Courant musste feststellen, dass in der Zwischenzeit viele Stellen durch Personen besetzt worden waren, die keinen Kriegsdienst geleistet hatten. Er konnte zwar weiterhin als Privatdozent tätig werden, doch eine Ernennung zum Ordinarius an derselben Universität, an der Promotion und Habilitation stattfanden, war nicht möglich. Daher empfahlen Hilbert und Felix Klein einen Umweg: Courant nahm eine frei gewordene Stelle an der Universität Münster an und konnte dann zum Wintersemester 1920/21 als externer Bewerber auf die Ordinariatsstelle in Göttingen berufen werden, die zuvor Klein innegehabt hatte. Als Neuerung führte er wöchentliche Übungen zu seinen Vorlesungen ein; die Lösungen der Studierenden wurden korrigiert und besprochen. Diese Praxis ist noch heute an Universitäten üblich.
In den 1920er Jahren verfasste Courant mehrere Bücher, die – auch wenn ein weiterer Autor im Titel steht – von ihm allein verfasst wurden:
- »Funktionentheorie« (1922, auf der Grundlage der Vorlesungen von Adolf Hurwitz, der bereits 1919 gestorben war),
- »Methoden der mathematischen Physik« (1924, Ausarbeitung der Vorlesungen von David Hilbert, in den 1930er Jahren folgte ein zweiter Band),
- »Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung« (zwei Bände, 1924). Die beiden Bände wurden wegen ihres behutsamen, motivierenden und anschaulichen Zugangs zur Analysis bis in die 1990er Jahre immer wieder neu aufgelegt.
Als 1922 die Mathematik und die Naturwissenschaften zu einer eigenen Fakultät zusammengefasst wurden (zuvor gehörten sie zur Philosophischen Fakultät), konnte der umtriebige Organisator Courant endlich einen lange gehegten Plan umsetzen: die Einrichtung eines Mathematischen Instituts der Universität. Zunächst war es nur eine Bezeichnung; erst 1927, dank der finanziellen Unterstützung durch die Rockefeller Foundation, wurde ein eigenes Gebäude bezogen und Courant wurde der erste Direktor, der Mathematik-Historiker Otto Neugebauer sein Stellvertreter.
1932 trat Courant eine Vortragsreise in die USA an und besuchte alle renommierten Hochschulen; überall wurde er von ehemaligen Absolventen der Göttinger Universität herzlich willkommen geheißen.
Flucht aus Nazi-Deutschland
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Inkraftsetzung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 1933 verloren auch zahlreiche Mitarbeiter der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen ihre Anstellung, darunter Emmy Noether. Richard Courant und die Physiker Max Born und James Franck dachten über einen gemeinsamen Protest nach (wie im Jahr 1837 die »Göttinger Sieben«). Born und Courant zögerten, der Nobelpreisträger Franck dagegen protestierte öffentlich gegen die Diskriminierung Deutscher jüdischer Abstammung als angebliche Feinde des Vaterlands und forderte seine eigene Entlassung.
Courant wurde beurlaubt, obwohl auf ihn die Ausnahmeregelung für ehemalige Frontkämpfer zutraf: Eine Unterschriftenaktion zahlreicher aktueller und ehemaliger Mitarbeiter wurde von staatlicher Seite nicht beachtet.
Im Anschluss an eine Tagung in Zürich reisten Courant und Franck nach Istanbul, um Angebote der türkischen Regierung zu prüfen, beim Aufbau der neuen staatlichen Universität mitzuwirken, lehnten diese jedoch ab.
Franck ging nach einem Gastsemester in Kopenhagen an die Johns Hopkins University in Baltimore; Born und Courant ließen sich offiziell beurlauben, um Gastprofessuren in Cambridge wahrnehmen zu können. Courants Stellvertreter Neugebauer (Nichtjude) verweigerte den Treueeid auf die neuen Machthaber und fand zunächst in Kopenhagen, später an der Brown University (Rhode Island) eine neue Stelle.
Erst Anfang 1934 erhielt Courant ein Angebot der New York University (NYU), zunächst für zwei Jahre, das er trotz der niedrigen Bezahlung – mangels Alternativen – annehmen musste. Dank der Intervention Ferdinand Springers durfte Courant seine umfangreiche private Bibliothek und seinen Hausrat mitnehmen.
»… dem Leser kann nicht jede Anstrengung erspart bleiben: Ein gewisser Grad von intellektueller Reife ist erforderlich …«Richard Courant, Mathematiker
Nach Überwindung großer Anfangsschwierigkeiten (schulisch schlecht vorbereitete Studenten, eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten, wie etwa das Fehlen einer Bibliothek) schaffte es Courant nach und nach, die Arbeitsbedingungen mit Hilfe von Sponsorengeldern zu verbessern. Dank seiner Verbindungen aus Göttinger Zeiten kamen regelmäßig Dozenten anderer Hochschulen zu Gastvorträgen an die NYU.
1937 beschaffte er die Mittel für eine zusätzliche Professorenstelle für Angewandte Mathematik, auf die Kurt Friedrichs berufen wurde, in den Jahren 1927 bis 1929 Courants Assistent in Göttingen, danach Professor an der Technischen Hochschule Braunschweig. Friedrichs war es 1936 gelungen, aus Deutschland auszureisen, als ihm jeglicher Kontakt zu seiner jüdischen Freundin verboten wurde – eine Heirat wäre sowieso ausgeschlossen gewesen; auch seiner Freundin gelang die Flucht in die USA. Courant, der selbst erst 1941 die US-amerikanische Staatsangehörigkeit erhalten konnte, bemühte sich auch in den folgenden Jahren, für Emigranten aus Deutschland Stellen zu finden, was zunehmend schwieriger wurde.
Ein US-Forschungsinstitut nach Göttinger Vorbild
Nach den englischen Übersetzungen der oben angegebenen (in Deutsch verfassten) Bücher veröffentlichte Courant 1941 – nach zehnjähriger Vorbereitung – das Buch »What is Mathematics?« (unter Mitwirkung von Herbert Robbins, von 1939 bis 1941 Dozent an der NYU). Das anspruchsvolle, kompakt geschriebene, aber auch heute noch lesenswerte Buch wurde ein Bestseller; erst 1962 erschien es in deutscher Übersetzung.
Courants Anliegen war es, »… den Leser von einem durchaus elementaren Niveau ohne Umwege zu Aussichtspunkten zu führen, von denen man einen Einblick in die Substanz der neueren Mathematik gewinnt … dem Leser (kann) nicht jede Anstrengung erspart bleiben: Ein gewisser Grad von intellektueller Reife und Bereitschaft zum eigenen Nachdenken ist erforderlich ...«
Die einzelnen Kapitel beschäftigten sich mit natürlichen Zahlen (einschließlich Induktion, Primzahlen, Kongruenzen, großer fermatscher Satz, Kettenbrüche), mit dem Zahlensystem der Mathematik (Fundamentalsatz der Algebra, unendliche Mengen und Mengenalgebra), mit geometrischen Konstruktionen und der Algebra der Zahlkörper, mit projektiver und nichteuklidischer Geometrie, mit Topologie (Polyederformel, Klassifikation von Flächen), mit Funktionen und Grenzwerten, mit Maxima und Minima (isoperimetrisches Problem, Seifenhautexperimente) sowie mit der Infinitesimalrechnung (Reihenentwicklungen und Differenzialgleichungen).
Dem umtriebigen Courant gelang es, das Graduate Center for Mathematics in ein Forschungszentrum für Angewandte Mathematik nach dem Vorbild des einst von ihm geleiteten Göttinger Instituts weiterzuentwickeln. Nach Kriegsbeginn konnte er das Programm durch Forschungsgelder des Militärs erweitern. In den 1950er Jahren wurde das erste Rechenzentrum der Atomic Energy Commission an der NYU eingerichtet (erster UNIVAC-Rechner). Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1958 begleitete er die Arbeit des von ihm gegründeten Instituts, dessen Name 1964 in Courant Institute of Mathematical Sciences geändert wurde.
Ende 1971 erlitt Courant einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte; der vielfach Geehrte starb 84-jährig in New Rochelle (New York).
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