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Der Mathematische Monatskalender: Richard von Mises (1883–1953)

Der leidenschaftliche Pilot übertrug die Strenge der Mathematik auf angewandte Gebiete wie die Ingenieurswissenschaften.
Richard von Mises (1883-1953)

Das Leben des österreichisch-amerikanischen Mathematikers Richard Edler von Mises ist geprägt vom häufigen Wechsel seiner Aufenthaltsorte: Geboren wird der zweite Sohn eines leitenden Ingenieurs der k.u.k. Eisenbahn-Gesellschaft in Lemberg, der Hauptstadt Galiziens (heute: Lwiw/Ukraine). Die wohlhabende Familie, ursprünglich einmal jüdischen Glaubens, war drei Generationen zuvor von Kaiser Franz Josef I. in den erblichen Adelsstand erhoben worden. Richard und sein 18 Monate älterer Bruder Ludwig (der später einmal als Wirtschaftswissenschaftler berühmt werden wird) besuchen in Wien das Akademische Gymnasium. 1901 besteht Richard die Matura mit Auszeichnungen in Mathematik und Latein und nimmt ein Studium der Mathematik, Physik und Ingenieurswissenschaften an der Technischen Universität Wien auf. Danach arbeitet er als Assistent von Georg Hamel und promoviert bei ihm zum Dr. Ing. mit der Arbeit »Die Ermittlung der Schwungmassen im Schubkurbelgetriebe«. Richard von Mises folgt seinem Doktorvater nach Brünn (heute: Brno/Tschechien), wo er seine Karriere fortsetzen kann (Habilitation über die Theorie der Wasserräder, Tätigkeit als Privatdozent). 1909 wird er Außerordentlicher Professor für Angewandte Mathematik an der Universität Straßburg (Elsass, 1871–1918 Teil des Deutschen Reichs) und in diesem Zusammenhang preußischer Staatsbürger. Als leidenschaftlicher Pilot hält er bereits 1913 Vorlesungen über Flugzeugbau und Flugzeugantriebe.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrt der überzeugte Patriot nach Österreich-Ungarn zurück, bildet Piloten aus und leitet ein Team von Ingenieuren, die ein 600-PS-Flugzeug für die Armee entwickeln sollen (das so genannte Mises-Großflugzeug), das aber nie zum Kriegseinsatz kommt. Nach dem Krieg übernimmt von Mises den neu eingerichteten Lehrstuhl für Hydrodynamik und Aerodynamik an der Technischen Hochschule Dresden, 1919 folgt dann die Ernennung zum Direktor des neuen Instituts für Angewandte Mathematik an der Universität Berlin.

Im Jahr 1921 gründet Richard von Mises die »Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik (ZAMM)«. Sein Institut entwickelt sich zum Forschungszentrum auch für Anwendungen in Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik und für numerische Lösungsverfahren von Differenzialgleichungen.

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht im Deutschen Reich übernehmen, spürt von Mises die Bedrohung durch die neuen Machthaber, auch wenn das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« Ausnahmeregelungen für nichtarische Kriegsteilnehmer vorsieht (das so genannte Frontkämpferprivileg); diese Ausnahmen werden durch die Nürnberger Gesetze 1935 aufgehoben. Ende 1933 erhält er das Angebot, an der Universität Istanbul den neu eingerichteten Lehrstuhl für Reine und Angewandte Mathematik zu übernehmen. Er versucht noch, seine Pensionsansprüche aus den zurückliegenden 24 Jahren zu retten, indem er auf die Bedeutung der Position für die deutsch-türkische Zusammenarbeit hinweist; aber seine Argumente werden nicht beachtet. (Kurz vor seinen Tod im Jahr 1953 macht er noch einmal einen vergeblichen Versuch bei deutschen Behörden, seine Rechte einzufordern.)

Im Oktober 1933, ein Tag vor seiner Abreise nach Istanbul, nimmt von Mises zum letzten Mal eine Staatsprüfung ab. Und diesem letzten seiner Studenten in Deutschland widmet er nach dem Ende der Prüfung noch einmal viel Zeit; in einem langen Gespräch gibt er Lothar Collatz Ratschläge, welche Schwerpunkte dieser in seiner angestrebten Promotion setzen solle.

Die aus Wien stammende Hilda Geiringer ist seit 1921 Assistentin von Richard von Mises und seine engste Mitarbeiterin bei ZAMM. 1928 war es ihr – nach zweijähriger Auseinandersetzung mit den zuständigen Gremien – gelungen sich zu habilitieren (sie war die zweite Frau, der dies zugebilligt wurde, die erste war Emmy Noether im Jahr 1919). Von ihrer Fakultät wird sie noch Anfang 1933 für eine Außerordentliche Professur vorgeschlagen, was bei anderen politischen Verhältnissen vermutlich auch umgesetzt worden wäre. So aber verliert die allein erziehende Mutter einer elfjährigen Tochter als Frau jüdischer Herkunft ihre Privatdozentenstelle. Um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, muss sie in Brüssel eine Stelle am Institut für Mechanik annehmen. Dann kann von Mises für sie eine Stelle an seinem Istanbuler Institut einrichten, wo sie Vorlesungen zunächst in französischer, nach drei Jahren in türkischer Sprache abhält.

Nach dem Tod Kemal Atatürks (10. November 1938) fühlen sich viele der deutschen Exilanten in der Türkei nicht mehr sicher. Von Mises ist erleichtert, als ihm eine Professur in Harvard angeboten wird. Aus Sorge, dass Hilda Geiringer keine Möglichkeit findet, ebenfalls in die USA auszuwandern, denken beide über eine Heirat pro forma nach. Sie findet jedoch eine Stelle als Dozentin am Bryn Mawr College für junge Frauen in der Nähe von Philadelphia – wie Jahre zuvor Emmy Noether – wofür sie eine weitere Fremdsprache erlernen muss.

1943 heiraten Richard von Mises und Hilda Geiringer. Alle Bemühungen, für die hochqualifizierte Wissenschaftlerin eine angemessene Stelle an einer Universität zu finden, erweisen sich als aussichtslos. In einem Brief an Hermann Weyl, der sich ebenfalls für sie eingesetzt hatte, stellt sie resigniert fest, dass die Zeit wohl noch nicht reif ist für Frauen im Hochschulbereich.

Selbst an Colleges gibt es nur wenige Stellen für Frauen. Hilda Geiringer muss sich mit einer Stelle am 45 Meilen von Harvard entfernten Wheaton College zufriedengeben, die sie bis zu ihrer Pensionierung wahrnimmt; wenigstens am Wochenende kann sie sich mit ihrem Mann über ihre aktuellen Forschungsprojekte austauschen, die sie unbeeindruckt von der herrschenden Geschlechterdiskriminierung fortsetzt.

1953 erliegt Richard von Mises einem Krebsleiden; und auf einmal ist es möglich, für die Witwe eine Stelle als »research fellow« in Harvard einzurichten. Neben ihrer Arbeit am Wheaton College erhält sie die Möglichkeit, den wissenschaftlichen Nachlass zu ordnen und dem Archiv der Universität zu übergeben. 1958 und 1964 erscheinen so noch posthum von Mises’ Bücher »Mathematical Theory of Probability and Statistics« und »Mathematical Theory of Compressible Fluid Flow«.

1956 wird Hilda Geiringer von der Freien Universität Berlin zum Außerordentlichen Professor Emeritus bei vollem Ruhestandsgehalt ernannt – ein später Versuch der Wiedergutmachung, die man ihrem Ehemann noch drei Jahre zuvor verweigert hatte, oder vielleicht nur eine politische Maßnahme im Kalten Krieg, hatte doch die Ostberliner Akademie der Wissenschaften von Mises anlässlich des 250sten Bestehens die Ehrenmitgliedschaft der Akademie angetragen, die dieser aber aus politischen Gründen ablehnen musste.

Richard von Mises verfasste zahlreiche richtungsweisende Arbeiten in fast allen Gebieten der Angewandten Mathematik; dabei legte er stets Wert auf die Feststellung, dass die mathematischen Methoden der Ingenieurwissenschaften den gleichen Anspruch auf Exaktheit erfüllen müssen wie die in der reinen Mathematik.

Aus seiner Kritik an der Laplace’schen Annahme einer a-priori-Wahrscheinlichkeit entwickelte er als empirischer Wissenschaftler einen häufigkeitstheoretischen Zugang zum Wahrscheinlichkeitsbegriff (»Wahrscheinlichkeit, Statistik und Wahrheit«, 1928). Wahrscheinlichkeiten sind für ihn Grenzwerte unendlicher Folgen von relativen Häufigkeiten, wobei ein Axiom der Zufälligkeit fordert, dass der Grenzwert unabhängig von der Wahl der unendlichen Folge ist. Der Ansatz konnte sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zunächst nicht gegenüber dem maßtheoretischen Ansatz von Andrei N. Kolmogorov durchsetzen. Kolomogorov selbst wurde aber nicht müde, die Bedeutung der von Mises’schen Überlegungen hervorzuheben.

Während seiner Zeit in Istanbul verfasste von Mises den Beitrag über Aufteilungs- und Besetzungswahrscheinlichkeiten, der zum Auslöser einer Fülle von Untersuchungen des so genannten Geburtstagsproblem wird, unter anderem:

  • Mit welcher Wahrscheinlichkeit haben unter \(n\) zufällig ausgewählten Personen mindestens zwei am selben Tag Geburtstag? (Bekanntlich ist für \(n \geq 23\) die Wahrscheinlichkeit größer als \(50\ \%.\) )
  • Wie viele Personen muss man im Mittel nach ihrem Geburtstag fragen, bis man zwei mit übereinstimmenden Geburtstagen gefunden hat? (Von Mises ermittelte hierfür den Erwartungswert 29; der korrekte Wert beträgt ungefähr 24,617.)

Weniger bekannt als die von Mises'schen Arbeiten zur Angewandten Mathematik sind seine Veröffentlichungen über Rainer Maria Rilke (1875-1926), insbesondere zum Schriftwechsel des in Prag geborenen deutschsprachigen Dichters.

Richard von Mises (1883 – 1953)

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