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Schlichting!: Bizarre Unterwasserschatten

Objekte, die auf flachen Gewässern driften, werfen oft völlig andere Schatten, als ihre tatsächlichen Umrisse vermuten lassen. Aber warum?
Kleine Kräuselungen am Rand eines Blatts auf einer Wasseroberfläche verändern die Form des daruntergeworfenen Schattens erheblich.

Bei Blättern und anderen Objekten, die auf einem flachen Teich oder einer Pfütze schwimmen, ist die auf den Boden geworfene Silhouette des Schattens in vielen Fällen eine völlig andere als die des Originals. Außerdem ziert eine leuchtende Umrahmung die kurios verzerrten Schatten, als hätte jemand den Umriss mit einem hellen Stift nachgezogen.

Das lässt sich beispielsweise bei Seerosenblättern auf relativ klarem Wasser beobachten. Die Schatten scheinen sich überhaupt nicht um die Form des jeweiligen Blatts zu kümmern und bedienen sich scheinbar frei aus dem Repertoire möglicher Konturen. Was über dem Gewässer als glatt und rund daherkommt, ist auf dessen Boden gefiedert – als wäre hier das Abbild eines ganz anderen Blatts zu sehen. Das ist auf den ersten Blick ebenso schön wie rätselhaft.

Wenn du alle Formen der Gewässer gut unterscheiden willst, dann betrachte klares Wasser von geringer Tiefe unter den Sonnenstrahlen
Leonardo da Vinci, 1452–1519

Dieser frappierende Wandel ist das Resultat einer subtilen Wechselwirkung zwischen der Blattkrempe und der Wasseroberfläche. Seerosenblätter verfügen über ein luftgefülltes Gewebe, das sie schwimmfähig macht. Sie liegen meist flach im Teich und sind nach außen hin leicht gewellt. Darum tauchen sie mit dem Rand abwechselnd ein und erheben sich. Das Gewebe hat eine Wasser liebende Unterseite und eine vergleichsweise abweisende Oberseite, so dass die Wasseroberfläche am Blattsaum fixiert bleibt und dabei abwechselnd etwas eingedellt (konvexer Meniskus) und angehoben (konkaver Meniskus) wird.

Lichtbrechung | In der vereinfachten Darstellung krümmt ein Blatt die Wasseroberfläche (rot dargestellt). Sie bricht einfallendes Licht zu einer hellen Linie um einen dunkleren Bereich.

Diese Krümmungen beeinflussen den Weg des Sonnenlichts ins Wasser hinein. Aber wie genau gelangen die Strahlen an einigen Stellen dem Anschein nach unter das Blatt? Vielleicht von dort, wo es nach oben gewölbt ist? Doch ein konkaver Meniskus zerstreut Licht und verteilt es über eine größere Fläche. Würden die Zwischenräume so entstehen, sollte die Helligkeit in ihnen wesentlich geringer sein. Diesen Effekt sehen wir aber nicht, zumal der Rand des Schattens von einer intensiven Brennlinie begrenzt ist. Außerdem müsste durch derartige Einschnürungen der geometrische Schattenbereich kleiner sein als das Blatt. Tatsächlich ist das gefiederte Abbild sogar ausgedehnter – der eigentliche Schatten wird also durch runde Ausbuchtungen erweitert.

Schatten eines Seerosenblattes | Kleine Kräuselungen am Rand eines Blatts auf einer Wasseroberfläche verändern die Form des daruntergeworfenen Schattens erheblich.

Entscheidend dafür sind die Dellen im Wasser durch die abgesenkten Bereiche der Blattkante. Diese sind von einem konvexen Meniskus umgeben. Eine solche Krümmung bricht das Licht nach außen hin, vergrößert den Schatten entsprechend und erzeugt eine Brennlinie am Rand.

Wasserläuferschatten | Dort, wo ein Wasserläufer die Oberfläche mit seinen dünnen Beinen herunterdrückt, erzeugt er große, runde Schatten.

Das Phänomen ist nicht auf Seerosen beschränkt. In eine Pfütze gefallenes Laub ruft dasselbe optische Phänomen hervor. Besonders eindrucksvoll wird der Effekt allerdings, wenn Wasserläufer die Teichoberfläche tief eindrücken. Die eigentliche Silhouette des Körpers, insbesondere der dürren Beinchen, erscheint im Vergleich zu den ovalen Schatten der Wasserdellen geradezu winzig (siehe Foto links).

Gewelltes Seerosenblatt | In einer flachen Schale wirft ein eng gewelltes Seerosenblatt eine besonders filigran ausgebuchtete Silhouette. Jeder Schattenbauch entspricht einem konvexen Meniskus, also einer Delle unter dem mittleren Oberflächenniveau.

Sie können die Zusammenhänge sehr einfach selbst untersuchen. Dazu müssen Sie nur eine flache Schale mit Wasser füllen und ein schwimmfähiges Blatt auf die Oberfläche legen. Im Licht der Sonne oder einer Lampe entstehen dann je nach der Welligkeit des Objekts hell umkränzte, gefiederte Schatten. Um sich die Zuordnung zu den Wellenbergen und Wellentälern vor Augen zu führen, können Sie mit einem dünnen Stift oder einer Nadel am Saum entlangfahren und die dazu gehörigen Schattengrenzen verfolgen.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Der Übergang des Lichts von der Luft ins Wasser erzeugt oft erstaunliche optische Deformationen (siehe »Wenn der Pool ins Schwimmen gerät«, »Spektrum« Februar 2009, S. 45). Die Transparenz des Wassers suggeriert, die Ursachen seien im Wortsinn leicht zu durchschauen – dabei lenkt sie manchmal vielmehr von den wichtigen Vorgängen an der Grenzfläche ab. Das gilt offenbar besonders für die Schatten von darauf driftenden Gegenständen. Auf den ersten Blick erkennt man die Unterschiede in der Eintauchtiefe kaum und ahnt somit nichts vom Grund der seltsamen Lichtablenkung. Da wir so etwas aus unserem Alltag an der Luft nicht kennen, werden Unterwasserschatten zu einem besonders kuriosen Phänomen.

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