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Der Mathematische Monatskalender: Thomas Bayes (1701–1761): Pfarrer und Statistiker

Ohne ihn würden die meisten KI-Algorithmen nicht funktionieren: Die bayessche Statistik prägt zahlreiche Bereiche unseres Lebens.
Thomas Bayes (1701–1761)

Thomas Bayes wurde als ältestes von sieben Kindern des presbyterianischen Geistlichen Joshua Bayes und seiner Frau Anne Carpenter geboren. Über das Datum und den Ort der Geburt des Jungen existieren keinerlei Dokumente; man weiß nur von seinem Grabstein, dass Thomas Bayes im Alter von 59 Jahren gestorben ist.

Ob das einzig existierende Porträt tatsächlich Thomas Bayes zeigt, darf bezweifelt werden. Die Darstellung wurde zum ersten Mal in einem Buch abgedruckt, das erst 1936 erschien. Nach Meinung von Experten passen jedoch weder die Art der Perücke noch der Stil des Gehrocks und auch nicht die Form des Kragens in die Zeit, in der Thomas Bayes lebte und wirkte.

Schüler von de Moivre?

Vermutlich erhielt Thomas als Sohn eines nonkonformistischen Geistlichen seine schulische Bildung an einer der Akademien der Dissenters in der Nähe des Wohnorts in London. Wegen hervorragender Kenntnisse in Mathematik, die sich später zeigten, insbesondere in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, vermutete man, dass er zusätzlichen Unterricht bei Abraham de Moivre erhielt. Dieser lebte als Emigrant in London und musste seinen Lebensunterhalt vor allem durch das Erteilen von Privatunterricht bestreiten.

1719 schrieb sich Bayes an der Universität von Edinburgh ein und hörte Vorlesungen in Theologie, Logik und auch in Mathematik. Dokumentiert sind zwei Predigten, die er im Rahmen der Ausbildung über Texte des Matthäus-Evangeliums hielt. Nach Abschluss des Studiums kehrte er nach London zurück, wurde ordiniert und unterstützte seinen Vater in dessen Gemeinde. In dieser Zeit verfasste er auch die theologische Streitschrift »Divine Benevolence« zu der Frage »Wie lässt sich die Existenz des Bösen mit der Güte Gottes vereinbaren?«

1731 wurde er Pfarrer einer presbyterianischen Gemeinde in Tunbridge Wells, einem zirka 50 Kilometer südöstlich von London gelegenen Kurort, der wegen seiner eisenhaltigen Quellen bei den höheren Schichten der Londoner Bevölkerung beliebt war. Reverend Bayes übte sein Amt bis 1752 aus; vergeblich hatte er sich schon einige Jahre zuvor darum bemüht, einen Nachfolger zu finden. Auch danach blieb er in Tunbridge Wells wohnen – bis zu seinem Tod 1761.

Bescheidener und zurückhaltender Geistlicher

Von Natur aus eher bescheiden und zurückhaltend, scheute er die Öffentlichkeit – sicherlich keine günstige Voraussetzung für seine Tätigkeit als Pfarrer. Er galt als exzellenter Gelehrter, aber nicht unbedingt als begabter Prediger. Seine theologischen Ansichten tendierten zum Arianismus, das heißt, er lehnte die Lehre der Dreifaltigkeit ab (wie übrigens auch Isaac Newton). Es ist wohl sehr fraglich, ob alle Gemeindemitglieder mit seinen theologischen Ansichten einverstanden waren.

Aus heutiger Sicht hätte eine Laufbahn als Mathematiker oder Naturwissenschaftler eher zu Bayes' Interessen und Fähigkeiten gepasst. Als der aus Irland stammende Theologe und Philosoph George Berkeley 1734 die Schrift »The Analyst – A Discourse Addressed to an Infidel Mathematician: Wherein It Is Examined Whether the Object, Principles, and Inferences of the Modern Analysis Are More Distinctly Conceived, or More Evidently Deduced, Than Religious Mysteries and Points of Faith« veröffentlichte, konnte Bayes seine mathematische Bildung unter Beweis stellen. Berkeley hatte in jener Schrift alle Ungläubigen angegriffen (zu denen auch die Nonkonformisten gehörten) und hatte die newtonsche Differenzial- und Integralrechnung aufs Schärfste kritisiert: Sie liefere zwar brauchbare Ergebnisse, entbehre aber logischer Grundlagen.

Kaum ein anderer Zeitgenosse als Bayes wäre in der Lage gewesen, einen vergleichbar kompetenten Beitrag zur Verteidigung der newtonschen »Fluxionslehre« zu verfassen (»An Introduction to the Doctrine of Fluxions, and a Defence of the Mathematicians Against the Objections of the Author of The Analyst«). Zwar hatte Bayes den Beitrag anonym veröffentlicht, doch seine Urheberschaft blieb nicht verborgen: 1742 erfolgte die Aufnahme des »hochgebildeten Gentleman, dessen Verdienste bekannt sind«, in die Royal Society – wenn auch ohne ausdrücklichen Bezug auf diese Schrift.

Überraschung im Nachlass

Als Bayes unverheiratet und kinderlos starb, hinterließ er seinem Amtsnachfolger eine umfangreiche Bibliothek. Ein beachtliches Vermögen (das er von seinem Vater geerbt hatte, und dieser wiederum von reichen Vorfahren) vermachte er Verwandten und Freunden. Er hatte verfügt, dass die Begräbniskosten möglichst gering gehalten werden sollten; auf eine Trauerrede sollte verzichtet werden.

Richard Price, einer seiner besten Freunde (wie Bayes Pfarrer einer nonkonformistischen Gemeinde und später eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika) entdeckte im Nachlass unter anderem ein Notizbuch, in dem Bayes – größtenteils in Kurzschrift – über viele Jahre hinweg Überlegungen zu mathematischen und physikalischen Fragen festgehalten hatte. Beispielsweise fand er dort eine Anleitung, wie man Ort und Zeitpunkt der Konjunktion zweier Planeten berechnen kann, und Beschreibungen für Experimente mit elektrischen Ladungen.

Darüber hinaus entdeckte Price das Manuskript zu einem Beitrag, das er 1763 – mit eigenen Kommentaren sowie einem Vorwort versehen – zur Veröffentlichung in den »Philosophical Transactions of the Royal Society« einreichte: »Dear Sir, I now send you an essay which I have found among the papers of our deceased friend Mr. Bayes, and which, in my opinion, has great merit, and well deserves to be preserved.« Dieses Werk trägt den Namen: »An Essay towards solving a problem in the doctrine of chances«.

Bayessche Statistik

Heute verbinden wir den Namen von Thomas Bayes mit dem nach ihm benannten bayesschen Theorem. Eine Formulierung des Satzes, so wie wir ihn heute kennen, sucht man in der nachgelassenen Schrift jedoch vergeblich.

Nach einführenden Definitionen und ersten Regeln, die so ähnlich auch in Abraham de Moivres »The doctrine of chances« (zweite Auflage von 1738) enthalten sind, findet man als Lehrsatz fünf die Beschreibung der Vorgehensweise, wie man von der Wahrscheinlichkeit eines eingetretenen Ereignisses auf die Wahrscheinlichkeit der Umstände (»circumstances«) schließen kann:

    »Wenn von zwei zusammenhängenden Ereignissen die Wahrscheinlichkeit für das zweite b/N und die Wahrscheinlichkeit für beide zusammen P/N ist und man entdeckt, dass das zweite Ereignis wirklich eingetreten ist, so ist für die Richtigkeit der Vermutung, dass das erste Ereignis ebenfalls eingetreten ist, die Wahrscheinlichkeit P/b« – in heutiger Schreibweise: PB(A) = P(A) · PA(B)/P(B).

Eine andere Form des bayesschen Satzes lässt sich auf eine Schrift von Pierre-Simon Laplace aus dem Jahr 1774 zurückführen, die dieser ohne Kenntnis der bayesschen Abhandlung verfasste.

In diesem »Mémoire sur la Probabilité des causes par les évènements« heißt es:

    »Wenn ein Ereignis durch eine Anzahl n verschiedener Ursachen hervorgerufen werden kann, dann verhalten sich die Wahrscheinlichkeiten dieser Ursachen wie die Wahrscheinlichkeiten des Ereignisses aus diesen Ursachen, und die Wahrscheinlichkeit der Existenz jeder von ihnen ist gleich der Wahrscheinlichkeit des Ereignisses aus dieser Ursache, geteilt durch die Summe aller Wahrscheinlichkeiten des Ereignisses aus jeder dieser Ursachen.«

In einem zweiten Teil seiner Schrift entwickelt Bayes ein Gedankenexperiment: Auf eine quadratische Platte wird eine weiße Kugel geworfen, die zufällig an einer Stelle liegen bleibt. Die Lage dieser Kugel (Abstand zur rechten und zur linken Kante) wird durch eine Folge von Experimenten eingegrenzt: Weitere Kugeln werden zufällig geworfen, und jedes Mal erhält man die Information, ob die Kugel links oder rechts von der weißen Kugel liegen geblieben ist. Hieraus ergibt sich dann von Schritt zu Schritt eine bessere Schätzung für die tatsächliche Lage der weißen Kugel.

Lehrsatz zehn

Aus dem Gedankenexperiment entwickelt Bayes den folgenden Satz, den Richard Price als »Lehrsatz zehn« überschreibt:

    »Mit p bezeichnen wir die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis A eintritt. In n Versuchen sei dieses Ereignis a-mal eingetreten und b-mal nicht eingetreten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass p zwischen zwei Werten x1 und x2 liegt, gegeben durch \( \frac{\int_{x_1}^{x_2} x^a \cdot (1-x)^b\ dx}{\int_{0}^{1} x^a \cdot (1-x)^b\ dx }\) « (notiert in heutiger Schreibweise).

In einem Appendix ging Price dann noch auf ein Problem ein, das der schottische Philosoph David Hume in seiner Schrift »An Enquiry Concerning Human Understanding« 1748 angesprochen hatte: »Wie sicher können wir sein, dass die Sonne morgens aufgeht?« Der Skeptiker Hume hatte bestritten, dass es logisch zulässig sei, aus einzelnen Beobachtungen auf eine allgemein gültige Regel zu schließen (induktiver Schluss von der Vergangenheit auf die Zukunft). Zwar neige der Mensch dazu, eine Kausalität des Beobachteten anzunehmen, und erwarte aus Gewohnheit, dass zukünftige Ereignisse den bisher beobachteten zumindest ähnlich sind (»the future will resemble the past«), aber dies sei nicht gerechtfertigt.

Price greift das Beispiel auf und betrachtet ein Lebewesen, das neu auf dieser Erde ist und den Sonnenaufgang beobachtet: Dessen Erwartung, die Sonne wieder zu sehen, wird von Tag zu Tag zunehmen, aber »no finite number of returns would be sufficient to produce absolute or physical certainty«.

In der wechselhaften Geschichte Englands spielte das 1549 unter Heinrich VIII eingeführte »Book of Common Prayer« eine bedeutsame Rolle; es enthält wichtige Regelungen zu Glaubensinhalten, Riten und Gebetstexten der anglikanischen Kirche. In der kurzen Phase unter Maria Stuart war es verboten, unter Elisabeth I wurde es wieder verbindlich. Während des Bürgerkriegs (1641–49) und der Zeit der Republik (1650–60) konnten die Gemeinden ihre eigenen Regelungen treffen. Als dann 1661 die Monarchie wieder eingeführt wurde und das »Book of Common Prayer« erneut verpflichtend werden sollte, protestierten landesweit über 1000 Geistliche (»Nonconformists«) gegen die Änderung. Sie wurden ihrer offiziellen Ämter enthoben, aber in den meisten Fällen fanden sie Rückhalt durch den lokalen Adel. Nach der »Glorious Revolution« 1688/89 erhielten diese »Dissenters« (unter anderem Presbyterianer, Kongregationalisten, Baptisten und Quäker) durch den »Act of Toleration« der neuen Herrscher William III und Mary das Recht der freien Religionsausübung mit eigenen registrierten Gemeinden – im Unterschied zu den Katholiken, die weiter verfolgt wurden. Die Mitglieder der nonkonformistischen Kirchen durften jedoch keine öffentlichen Ämter bekleiden und auch nicht an englischen Universitäten wie Oxford oder Cambridge studieren. So entstanden eigene Akademien für die Ausbildung der Geistlichen; zum Studium gingen viele nach Leiden (Südholland) oder an schottische Universitäten.

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