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Schlichting!: Die blaue Stunde

Das Licht der tief stehenden Sonne interagiert besonders stark mit der Ozonschicht, die Gelb- und Orangetöne absorbiert und Blau hindurchlässt. Das verpasst der Atmosphäre einen speziellen Farbton.
Die Sonne kehrt zurück

Während der Abend- und der Morgendämmerung beherrscht ein kräftiges blaues Licht den Himmel. Dabei ist oft von der blauen Stunde die Rede. Sie verbindet das Dunkel der Nacht mit dem Rot der tief stehenden Sonne. Viele Menschen fühlen sich von dem Phänomen berührt; Schriftsteller und Poeten haben es immer wieder beschrieben und besungen.

Es war die Stunde, in der das Licht die Farben noch nicht hervorgeholt hat

Jenseits aller romantischen Schwärmerei ist die Phase auch physikalisch bemerkenswert. In dieser Zeitspanne, in der sich die Sonne vom Beobachter aus gesehen etwa vier bis acht Grad unter dem Horizont aufhält, ist die spektrale Zusammensetzung des Blaus eine andere als die des Himmelblaus am Tag. Die Töne erscheinen uns zwar ähnlich, aber sie werden von ganz verschiedenen Vorgängen bestimmt.

Wenn die Sonne auf- oder untergeht, wirkt sie bekanntlich gelb bis rot. In besonders farbenprächtigen Fällen sind nicht nur sie selbst und von ihr beleuchtete Wolken in intensive Rottöne getaucht, sondern auch große Teile des sonst blauen Himmels.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

Das weiße Sonnenlicht enthält eigentlich alle Spek­tralfarben. Allerdings zerlegen Wechselwirkungen mit der Materie es unter den passenden Bedingungen in seine einzelnen Anteile. Das bekannteste Ergebnis einer solchen Aufspaltung, bei der sich sämtliche Wellenlängen nach ihrer Größe sortiert beobachten lassen, ist wohl der Regen­bogen. Er kommt durch Brechung und Reflexion der Strahlung in Wassertropfen zu Stande. Im sichtbaren Bereich erstreckt sich das Spektrum vom langwelligen Rot über Gelb und Grün bis hin zum kurzwelligen Blau und Violett.

Himmlische Farbordnung

Sobald das Sonnenlicht auf Luftmoleküle in der Atmosphäre trifft, lenkt die »Rayleigh-Streuung« es in alle Richtungen ab – die kurzwelligen Anteile wesentlich stärker als die langwelligen. Ganz grob kann man sich das mit Wogen auf dem Wasser veranschaulichen. Kleine Hindernisse beeinflussen vergleichbar dimensionierte Kräuselungen stark, wohingegen sich ausgedehnte Wellen davon kaum beeindrucken lassen.

Die Streuung durch die Luft hat eine für das Leben auf der Erde entscheidende Konsequenz: Tagsüber ist es nicht nur in Richtung der Sonne hell, sondern überall. Wir sind von einer Art indirekter dreidimensionaler Beleuchtung umgeben, deren Farbe sich aus der Summe der zahlreichen Streuvorgänge ergibt – das typische Himmelsblau. Es zeigt sich jedoch nur beim Blick durch dickere Schichten, ähnlich wie beim Wasser, das erst mit zunehmender Tiefe nicht mehr transparent, sondern azurblau erscheint.

Befindet sich die Sonne am Horizont, ist der Weg ihrer Strahlung durch die Atmosphäre zum Beobachter etwa 35-mal so lang wie vom Zenit. Deshalb werden bei niedrigem Stand wesentlich mehr kurz- als langwellige Anteile aus dem Licht herausgelenkt. Außerdem erfährt eine wachsende Zahl von Photonen so einen Streu­vorgang nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach. Insgesamt bleiben schließlich auf direkter Strecke zur Sonne fast nur Gelb und Rot übrig. Größere Partikel (Aerosole) streuen zusätzlich und lassen über die Sonnenscheibe hinaus weite Teile des umgebenden Himmels rot erscheinen.

Farbübergang | Die heraufziehende Dämmerung beendet die blaue Stunde des frühen Morgens.

Steht die Sonne unterhalb des Horizonts, erreichen ihre Strahlen immer noch die hohen Bereiche der Atmosphäre. Im Prinzip wäre jetzt zu erwarten, dass auch der Zenit sein Blau einbüßt. Es tragen zwar die Photonen vom oberen Teil der Sonne mit seitwärts gestreutem Licht zur Farbe des Himmels bei, aber es werden immer weniger. Sie sollten sich zunehmend mit dem Rot zu einem grünlichen oder gelblichen Ton mischen. Doch der Zenit behält sein sattes Kobaltblau.

Verantwortlich für diesen überraschenden Befund sind die in der unteren Stratosphäre vermehrt vorkommenden Ozonmoleküle. Sie absorbieren vor allem Gelb sowie Orange und sind für Blau weitgehend durchlässig. Die Ozonschicht wirkt daher wie ein den ganzen Himmel umspannender blauer Farbfilter. Er hindert die langwelligen Anteile der Dämmerungsstrahlung daran, den Zenit zu erreichen. Darum dominiert dort nach wie vor Blau. Entscheidend für die deutliche Wirkung ist der besonders weite Lichtweg von der tief stehenden Sonne durch das Ozon. Die Absorption fällt deswegen entsprechend groß aus.

Luftfilter | Die Strahlen aus dem oberen Bereich der untergegangenen Sonne legen einen langen Weg durch die Ozonschicht am unteren Rand der Stratosphäre zurück (nicht maßstabsgetreu gezeichnet). Dabei verlieren sie Gelb- und Orangeanteile. Wir sehen daher fast nur noch gestreutes blaues Licht (Pfeile).

Je weiter die Sonne sinkt, desto höher steigt auf der anderen Seite der Erdschatten als graublauer Bogen. Falls das Dämmerlicht stark genug ist, um auch am gegenüberliegenden Himmel als rötlicher Schein sichtbar zu werden, verschwindet dieser immer mehr im Erdschatten, der schließlich mit dem Nachthimmel verschmilzt.

Die Interaktion zwischen Sonnenlicht und Ozonschicht findet nicht nur morgens und abends statt. Der Blaufilter des Ozons ist am Tag genauso wirksam, allerdings ist dann der Weg der Strahlung durch die Schicht bedeutend kürzer. Die Rayleigh-Streuung ist wesentlich stärker und dominiert darum fast die gesamte Zeit.

Es ist erstaunlich, dass sich das so selbstverständlich erscheinende Blau im Zenit, das sowohl am Tag als auch am Übergang zur Nacht zu sehen ist, zwei gänzlich unterschiedlichen physikalischen Vorgängen verdankt. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, es käme der Natur darauf an, das Himmelsblau auf jeden Fall zu erhalten.

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