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Schlichting!: Widerspenstiger Ketchup

Die Würzsoße ist mal dünn- und mal dickflüssig – je nach mechanischer Einwirkung. Für die variable Konsistenz sind in ihr enthaltene Molekülketten verantwortlich.
Currywurst mit Pommes

Ketchup ist bekannt dafür, dass man ihn selbst dann schwer aus der Flasche bekommt, wenn eigentlich noch genügend drin ist. Zwar bleibt bei allen flüssigen Lebensmitteln immer ein Rest im Gefäß kleben, von Rotwein bis Speiseöl. Das liegt an der Benetzbarkeit des Behälters sowie der Zähflüssigkeit der Substanz und betrifft meist nur eine dünne Schicht. Der Ketchup jedoch hängt stets in dicken Lagen an der Innenwand. Bloßes Kippen und sogar Auf-den-Kopf-Stellen befördert nur dann etwas aus dem Hals des Glases heraus, sofern es noch nahezu voll ist. Hingegen lässt sich Ketchup, hat man ihn denn einmal auf dem Teller, leicht verteilen und verstreichen.

»Das noch nicht festgelegte Element, das aber fähig ist, sich von außen bestimmen zu lassen«
Theodor Schwenk, 1910–1986

Die zähe Tomatensoße verflüssigt sich erst, wenn man die Flasche kräftig schüttelt oder mit der Hand darauf stößt. Passt man nicht auf, landet daraufhin viel mehr auf dem Essen, als man wollte. Erfahrene Konsumenten wis­sen allerdings, dass es nach dem Rütteln keinen Grund zur Eile gibt, denn die Mobilisierung hält eine gewisse Zeitspanne vor. Man kann anschließend in Ruhe den Deckel öffnen und das Ziel anvisieren.

Dieses lästige Verhalten führt unweigerlich zu der Frage, warum die Lebensmittelhersteller das Problem nicht längst im Griff haben. Die schlichte Antwort lautet: Der Ketchup ist bewusst so designt worden. Nicht um die Konsumenten zu ärgern, vielmehr weil es in den wichtigeren Situationen genau darauf ankommt. Die Tomaten­soße muss sich in einem dünnen Streifen etwa auf ein Würstchen aufbringen lassen, ohne herunterzurinnen und die Kleidung zu bekleckern – auch dann nicht, wenn man es schwungvoll in den Mund bewegt. Und dort angelangt soll die Würze trotzdem nicht klebrig schmecken, sondern gewissermaßen auf der Zunge zergehen und bei leichten Kaubewegungen keinen Widerstand leisten.

Physikalisch gesehen kommt es beim Schütteln, Verstreichen und Essen zu einer Scherung des Ketchups. Idealisiert bedeutet das: Der untere Teil der im Ruhezustand dickflüssigen Masse liegt auf einem festen Untergrund auf und ist durch Adhäsion oder andere Kräfte fixiert, während die oberen Schichten parallel dazu verschoben werden. Bei normalen »newtonschen« Flüssigkeiten ist die Zähigkeit (Viskosität) unabhängig davon, mit welcher Kraft pro Flächeneinheit sie deformiert werden. Bei »nichtnewtonschen«, zu denen Ketchup gehört, ist das anders: Bei stärkerer Einwirkung verringert Ketchup seine Viskosität. Man spricht daher auch von scherverdünnendem Verhalten.

Verantwortlich dafür sind so genannte Polymere, die der aus Tomatenmark, Zucker und einigen weiteren Substanzen bestehenden Soße in Form eines Verdickungsmittels zugefügt wurden. Polymere sind mikroskopisch gesehen komplexe Moleküle aus langen Atomketten. Sich selbst überlassen, verknäulen sich diese, weil sie dadurch Energie an die Umgebung abgeben. In so einem Zustand erzeugt das Polymer einen relativ breiigen und daher zähen Stoff. Wirken allerdings genügend große Scherkräfte auf ihn, überträgt das die nötige Energie auf die Moleküle, um sie zu strecken und längs auszurichten. Nach der Strukturänderung gleiten die Ketten nunmehr leicht aneinander vorbei. Das äußert sich makroskopisch gesehen in einer geringeren Viskosität.

Nachdem die Scherkräfte nachgelassen haben und der Ketchup sich selbst überlassen ist, verwinden sich die Polymermoleküle unter Abgabe von Energie erneut. Das dauert eine gewisse Zeit und erklärt, warum sich die Soße nach dem Schütteln und dem dadurch bedingten Scheren nicht sofort wieder verfestigt.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

In unserem Alltag begegnen wir weiteren scherverdünnenden Substanzen, beispielsweise Shampoo. Ein Häufchen davon läuft auf der Handfläche so langsam auseinander, dass man es in aller Ruhe auf den Kopf befördern und in den Haaren verteilen kann. Dabei wiederum ist kaum Widerstand zu spüren, weil die Scherung das Fluid verdünnt. Trotz der Gemeinsamkeit mit dem Ketchup besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden: Das Shampoo zerfließt bereits auf Grund seiner eigenen Schwere, während diese beim Ketchup in den meisten Fällen nicht dafür ausreicht. Ein Streifen davon auf einem Würstchen rührt sich nicht von der Stelle. Auch die zu den nichtnewtonschen Flüssigkeiten gehörenden Wandfarben und Zahncremes verharren dort, wo sie aufgetragen werden.

Wenn es Flüssigkeiten gibt, die ihre Zähigkeit infolge einer scherenden Deformation verkleinern – existieren dann außerdem solche, die dabei ihre Viskosität vergrößern? Tatsächlich ist ein Vertreter einer scherverdickenden Substanz aus dem Haushalt bekannt: mit Wasser zu einer Paste vermengte Speisestärke. Sie lässt sich bei moderaten Geschwindigkeiten relativ bequem verrühren. Sobald das Tempo zunimmt, steigt die Zähigkeit stark an, bis die Mischung schließlich so fest wird, dass der Löffel stecken bleibt.

Das Stärke-Wasser-Gemisch verhält sich ähnlich wie Treibsand, bei dem die Sandkörner unter sanfter Krafteinwirkung aneinander vorbeigleiten, weil sie von Wasser geschmiert werden. Plötzlicher Druck verdrängt es aus den Zwischenräumen und presst die festen Bestandteile zusammen, was den Widerstand drastisch erhöht. Wie beim Sand werden auch die Stärkemoleküle von einer Schicht Wasser getrennt. Große Kräfte bringen sie in Kontakt – die Mixtur verklumpt.

Den Ärgernissen mit dem Ketchup ist die Industrie inzwischen auf andere Weise begegnet: Er ist heute in flexiblen Kunststoffflaschen erhältlich. Schon bei leichtem Quetschen erweist sich der Widerstand der Tomatensoße als zwecklos. Das vereinfacht zwar das Handling, die physikalische Herausforderung und der Triumph­moment beim unfallfreien Auftragen gehen jedoch verloren.

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