Freistetters Formelwelt: Die Grenzen der Mathematik
Die Mathematik ist immer dann besonders gut, wenn es darum geht, Dinge zu ordnen und zu klassifizieren. Das macht sie auch zu einem so wertvollen Werkzeug für die Naturwissenschaft. Die Phänomene der natürlichen Welt sind oft verwirrend, und es braucht den objektiven Blick der Mathematik, um Klarheit über die den Dingen zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu erlangen. Aber man muss immer auf der Hut sein: Nur weil eine Formel zur Beschreibung eines Phänomens existiert, muss deswegen noch lange kein entsprechender physikalischer Mechanismus existieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die mathematische Gleichung, die 1766 vom Astronom Johann Daniel Titius aufgestellt wurde:
Mit dieser Formel wollte Titius die Verteilung der Planeten des Sonnensystems erklären. Es handelt sich dabei um die moderne Formulierung der Gleichung; Titius selbst nahm damals die Zahlenreihe 0, 3, 6, 12, 24, 48, 96, in der (abgesehen vom ersten Schritt) jede Zahl das Doppelte der vorhergehenden ist, und addierte zu jeder Zahl der Reihe die Zahl 4. Die resultierende Reihe 4, 7, 10, 16, 28, 52, 100 stimmte erstaunlich gut mit den mittleren Abständen der Planeten von der Sonne überein, wobei der Abstand zwischen Erde und Sonne hier willkürlich auf 10 Einheiten festgelegt wurde.
Die moderne Formulierung berechnet den Abstand a (gemessen in Astronomischen Einheiten, AE, wobei 1 AE knapp 150 Millionen Kilometern entspricht) eines Planeten von der Sonne in Abhängigkeit einer ganzen Zahl n. Für n = 0 ergibt sich ein Abstand von 0,7 AE, was in etwa der Distanz der Venus entspricht. Bei n = 1 erhält man den Abstand der Erde mit 1 AE. Für den Mars mit n = 2 erhält man einen Abstand von 1,6 AE, was nur eine kleine Abweichung vom realen Abstand von 1,5 AE darstellt. Bei n = 4 erhält man mit 5,2 AE ziemlich genau den Abstand des Jupiters, und bei n = 5 macht man mit 10 AE einen Fehler von nur knapp fünf Prozent zum echten Abstand des Saturns.
Für den innersten Planeten Merkur müsste man in dieser Formel allerdings n = &-infin; setzen, damit die Gleichung aufgeht. Und auch sonst gibt es noch ein paar Probleme. Wo ist zum Beispiel der Planet, der dem Fall n = 3 entspricht? Laut Titius' Formel sollte der einen mittleren Abstand von 2,8 AE haben – dort kannte man 1766 jedoch keinen Planeten. Stattdessen entdeckte man 1781 den Uranus, und dieser wiederum passte mit einem Abstand von 19,2 AE sehr gut zum Fall n = 6 mit 19,6 AE. In der "Lücke" zwischen Mars und Jupiter wurde dann 1801 ebenfalls ein Himmelskörper entdeckt. Das war der Asteroid Ceres – kein Planet also –, und in den folgenden Jahren entdeckte man noch jede Menge weitere kleine Asteroiden in der gleichen Region des Sonnensystems. Spätestens die Entdeckung Neptuns im Jahr 1846 brachte Titius' System dann völlig durcheinander, denn sein Abstand von 30 AE lässt sich mit der Formel überhaupt nicht mehr reproduzieren.
Der Fall der Titius-Bode-Reihe (der deutsche Astronom Johann Elert Bode hatte wesentlich dazu beigetragen, sie bekannt zu machen, weswegen sie heute auch seinen Namen trägt) ist ein schönes Beispiel für die bestehende Gefahr, die droht, wenn man sich blind auf mathematische Gesetzmäßigkeiten verlässt. Titius war in der Lage, die 1766 bekannten Daten über die Abstände der Planeten in einer mathematischen Formel zusammenzuführen. Dieser Formel lag aber keine physikalische Motivation zu Grunde; sie konnte nur eine bestimmte Abfolge von Zahlen reproduzieren. Und als dann neue Beobachtungsdaten auftauchten, brach die Vorhersagekraft der mathematischen Reihe zusammen.
Wenn man die Mathematik benutzt, um reale Phänomene in der Natur zu beschreiben, darf man nie vergessen, dass es eben immer nur eine Beschreibung ist und nicht gezwungenermaßen auch eine Erklärung. Man darf der Mathematik nicht blind folgen – so verlockend dies auch sein mag.
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