Covid-19 bei Kindern: »Erwachsene müssen ihre Verantwortung erkennen«
Seit dem Ende der Sommerferien stecken sich immer mehr Kinder und Jugendliche mit Corona an. Doch obwohl die Fallzahlen in der Altersgruppe stark steigen, wollen Politikerinnen und Politiker Kitas und Schulen nicht mehr schließen – zu groß seien die soziopsychologischen Folgen von Schulausfall und Home Schooling, wie die vergangenen Monate gezeigt hätten. Außerdem erkranken Kinder nur in äußerst seltenen Fällen schwer an Covid-19.
Ist es also okay, dass Erwachsene wieder Restaurants besuchen und feiern gehen, während Kindern und Jugendliche weitgehend ungeschützt sind? Oder sind die Kinderkrankenhäuser bald überfüllt, weil viele junge Menschen schwer erkranken? Und wann sollten auch junge Kinder geimpft werden? Im Interview spricht der Arzt Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln, über den Alltag im Krankenhaus, lang anhaltende Beschwerden bei Kindern und welche Schutzmaßnahmen er für richtig hält.
»Spektrum.de«: Die Sommerferien in NRW sind seit einiger Zeit zu Ende, die Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen steigen kontinuierlich. Sind Erwachsene sich ausreichend bewusst, dass ihre Freiheiten – Besuche im Restaurant oder im Club, der Urlaub im Ausland – auf Kosten des Kinderschutzes gehen?
Jörg Dötsch: Richtig, die Inzidenzen sind zunächst sehr stark angestiegen. Jetzt stabilisieren sie sich und fallen auch wieder leicht bei den Kindern. Möglicherweise führen die Testungen in den Schulen dazu, dass wir rechtzeitig viele Kinder erkannt haben.
Erwachsene müssen ihre Verantwortung erkennen. Wir haben nicht nur eine Verantwortung und eine gewisse Schuld den Kindern und Jugendlichen gegenüber. Wir haben vor allem auch eine Verantwortung gegenüber denen, die sich nicht impfen lassen können. Mich erreichen immer wieder Geschichten von Familien mit kleinen, schwer kranken Kindern, die sich seit mehr als einem Jahr kaum mehr aus dem Haus wagen. Das sind keine Einzelfälle. Wir Erwachsene denken oft nicht an diese Menschen, vielleicht auch in dem Überschwang: »Es ist alles besser, es wird ein Ende haben«. Wir haben eine große Verantwortung als Erwachsene, uns so zu verhalten, dass wir den Kindern als Vorbild dienen können, dass wir die Kinder schützen, indem wir die Schutz- und Hygienemaßnahmen auch anwenden – und vor allem, indem wir uns impfen lassen.
Wie ist die Situation derzeit bei Ihnen in der Kinderklinik?
Zum Glück ist sie bei uns sehr günstig. Wir hatten seit den Sommerferien ein Kind mit einer Covid-Erkrankung. Ansonsten gab es Kinder, die wegen einer anderen Erkrankung kamen und dann ohne Symptome positiv auf das Coronavirus getestet wurden. Ähnlich ist es übrigens in den anderen Kölner Kinderkliniken. Trotz der hohen Inzidenzzahlen, die zum Teil durch sehr sorgfältige Testungen bedingt sind, verläuft die Erkrankung für Kinder in den allermeisten Fällen milde.
Kommen nun verstärkt Kinder und Jugendliche mit einem schweren Krankheitsverlauf zu Ihnen?
Nein, gar nicht. Laut dem Robert Koch-Institut (RKI) befinden sich schätzungsweise 100 bis 200 Kinder pro Woche auf Grund einer Corona-Erkrankung im Krankenhaus. Wir haben auf der anderen Seite knapp 350 Kinderkliniken in Deutschland. Das bedeutet, dass momentan auf jede Kinderklinik maximal ein Patient kommt. Die Zahl beinhaltet sowohl Kinder mit Symptomen als auch Kinder mit einem positiven Abstrich ohne Erkrankung. Um die stationären Covid-19-Fälle von Kindern und Jugendlichen zu dokumentieren, hat die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie ein Register auf freiwilliger Basis angelegt. Hier fallen die Zahlen noch geringer aus.
Dürfen Eltern dann eigentlich auf die Station, oder ist das wegen von Corona-Schutzmaßnahmen derzeit verboten?
Ja, selbstverständlich dürfen sie. Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnten wir den Familien schnell wieder ermöglichen, dass immer mindestens ein Elternteil auch ununterbrochen bei seinem Kind bleiben kann. Mehr Platz hat man häufig auch nicht in den Zimmern. Die Eltern müssen sich regelmäßig testen lassen und die gesteigerten Hygienevorschriften der Klinik einhalten.
Wie viele Kinder und Jugendliche mit lang anhaltenden Symptomen betreuen Sie? Wie passt das zum Rest Deutschlands?
In den vorherigen Wellen der Pandemie hatten wir eine ganze Reihe von Patienten, über zehn Kinder, mit dem Entzündungssyndrom PIMS. Dabei kommt es im Anschluss an eine Corona-Infektion zu einer überschießenden Reaktion des kindlichen Immunsystems. Seit Anfang des Jahres haben wir eine Long-Covid-Sprechstunde. Zum Glück sehen wir weit weniger Long-Covid-Fälle als befürchtet.
Die Frage nach Long Covid bei Kindern ist schwer zu beantworten. Wir müssen nach wie vor sehr vorsichtig sein, einen endgültigen Schluss zu ziehen, weil wir bisher keine gute Datengrundlage haben. Eine Schweizer Studie hat festgestellt, dass Kinder, die nachträglich positiv auf das Virus getestet wurden, etwa gleich häufig Symptome geäußert haben wie diejenigen, die das Virus nicht hatten. Als Fazit kann man vielleicht Folgendes sagen: Long Covid ist höchstwahrscheinlich sehr selten bei Kindern. Je älter sie werden, desto häufiger tritt das Krankheitsbild auf. Es bleibt nach aktuellem Stand aber selten.
Wie hoch ist der Anteil an asymptomatischen Kindern, die erst bei Ihnen positiv auf das Coronavirus getestet werden?
Schwer zu sagen. Bei uns in Köln kam in den letzten Wochen schätzungsweise auf jedes fünfte bis zehnte positiv getestete Kind eines, das erkrankt war. Viele Mediziner anderswo berichten Ähnliches.
Gibt es Kinder und Jugendliche mit bestimmten Vorerkrankungen, die gerade besonders häufig oder schwer erkranken?
Wie bei den Erwachsenen auch sind es insbesondere Erkrankungen, die mehrere Organsysteme betreffen, die zu schweren Erkrankungen bei Kindern führen. Zum Beispiel sehr schweres Übergewicht. Wobei man sagen muss: Trotz des statistisch gesteigerten Risikos sind Kinder mit chronischen Erkrankungen zum Glück weniger schwer betroffen als Erwachsene mit chronischen Erkrankungen.
»Am wichtigsten ist, dass sich alle Erwachsenen impfen lassen«
Jörg Dötsch
Könnten die Kinderkliniken in den nächsten Wochen an ihre Kapazitätsgrenzen kommen?
Das sieht auf gar keinen Fall so aus. Die Kliniken sind im Moment sehr voll, weil andere Infektionen »nachgeholt« werden, zum Beispiel das Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RS-Virus. Das ist ein Erkältungsvirus, das Erwachsenen keine Probleme macht, kleinen Kindern aber schon. Normalerweise finden die meisten Infektionen im Spätherbst und im Winter statt. Doch diesen Sommer haben wir ganz viele Kinder mit diesem Virus auf Station, um ein Vielfaches mehr als Kinder mit Covid-Erkrankungen.
Was muss jetzt unternommen werden, damit die Inzidenzen von Kindern und Jugendlichen nicht noch weiter steigen und bestenfalls wieder zurückgehen? Oder ist der hohe Anteil an infizierten Minderjährigen doch nicht so dramatisch?
Nach wie vor ist das Wichtigste, dass sich alle Erwachsenen impfen lassen und dass es keine Ausreden gibt. Der hohe Anteil an Virusträgern unter den Minderjährigen ist für unser Gesundheitssystem in der Gesamtheit momentan zwar kein Problem. Trotzdem sollten wir all die Maßnahmen, die wir in den letzten anderthalb Jahren in den Schulen erprobt haben – regelmäßiges Testen, Schutzmaßnahmen wie Abstandhalten, der Mund-Nase-Schutz –, jetzt nicht leichtfertig aufheben. Dieser Leichtsinn wie bei den EM-Spielen mit tausenden Infektionen im Nachgang, der darf nicht aufkommen. Wir alle haben die ganz große Pflicht, uns nach wie vor so zu verhalten, dass wir diejenigen schützen, die sich selbst nicht schützen können. Das ist unsere Aufgabe als Menschen.
Sind Sie dafür, dass auch Kinder unter zwölf Jahren geimpft werden?
Die Kinder sollen dann geimpft werden, wenn die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) die entsprechende Zulassung ausspricht. Es wird wahrscheinlich folgendermaßen ablaufen: Wenn alles gut geht, werden zum Ende des Monats die Zulassungsdaten des mRNA-Impfstoffs für die Sechs- bis Elfjährigen vorgelegt. Ende Oktober folgen die Daten für die noch kleineren Kinder. Die EMA hat, so die Erfahrung, in der Regel einen Monat gebraucht, um zu entscheiden.
Dann wird wichtig, was die Ständige Impfkommission (STIKO) abhängig von der Datenlage zu dem Zeitpunkt empfiehlt: erst einmal nur die Risikokinder impfen? Das würde vielen Eltern mit chronisch kranken Kindern schon mal helfen. Oder empfiehlt die STIKO gleich, alle Kinder zu impfen? Meine Kollegen und ich finden, dass die STIKO insbesondere bei der Empfehlung für die 12- bis 17-Jährigen sehr klug abgewogen hat und sich nicht hat unter Druck setzen lassen. Sie hatte immer das Wohl der Kinder und Jugendlichen im Blick und nicht das politische Wohl. Das war sehr wichtig. Deswegen ist unser Vertrauen in die STIKO sehr hoch.
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