Raumfrachter: Der letzte Start des ATV
Da fliegen sie weg, die Käsespätzle. Und der Kaffee. Und die Saitenwürste. Und die Socken. Und 1198 weitere Dinge. Allesamt fein säuberlich verpackt, verzurrt, gewogen und registriert. Exakt 154 prall gefüllte Taschen. Exakt 1234 Kilogramm.
Volker Schmid schaut dem fliegenden Carepaket, das gerade an der Spitze einer "Ariane 5"-Rakete in Richtung der Internationalen Raumstation ISS rast, noch lange hinterher. Das Donnergrollen, das die 30 Millionen PS beim Abheben produziert haben, das den Boden erzittern und den Magen grummeln lässt, ist längst verhallt. Lediglich ein paar Rauchwolken über dem Startplatz in Französisch-Guayana zeugen noch davon, dass vor wenigen Minuten, um 20.47 Uhr Ortszeit am 29. Juli, etwas Besonders passiert ist. Die Rakete selbst ist dagegen nur noch als Lichtpunkt am sternklaren Himmel auszumachen.
Schmid lässt den Fleck keinen Moment aus den Augen. Dort, weit draußen über dem Atlantik, fliegt eines seiner Kinder – das automatische Transfer-Vehikel ATV. Seit April 2001 hält der europäische Raumfrachter Volker Schmid, ISS-Programmmanager beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), bereits auf Trab. Am 29. Juli 2014 ist das Gefährt zu seinem fünften Flug aufgebrochen.
Die letzte Reise
Es wird gleichzeitig sein letzter sein: Sechs Jahre nach dem Jungfernflug des Transporters, des kompliziertesten und innovativsten Raumfrachters, den Europa jemals gebaut hat, haben die Europäer das Interesse an ihrem Vorzeigeobjekt verloren. Sie streben nach Höherem und wollen andere Projekte verwirklichen. Sie wollen ambitioniertere, aber auch ungewissere Missionen starten. Noch geht der Plan auf. Aber er ist riskant. Die Zweckliebe zum ATV hat einen simplen Grund. Der Frachter ist – in der Logik der europäischen Raumfahrt – nicht mehr als eine Währung. Er ist ein Tauschobjekt, um Schulden bei den Amerikanern zu begleichen: Die US-Raumfahrtbehörde NASA betreibt seit 2008 das europäische Forschungsmodul "Columbus".
Und sie wird bis Mitte 2017 sieben europäische Astronauten zum orbitalen Außenposten bringen. Da Schulden unter Raumfahrtfreunden selten bar beglichen werden, haben sich die Partner auf eine andere Methode verständigt: Europa wird 28 Tonnen Fracht zur ISS bringen. Deshalb das ATV und der Start von Kourou.
Auch wenn das Raumschiff im Grunde nicht mehr als Waren abliefern muss, haben sich die europäischen Ingenieure nicht lumpen lassen. Unter anderem haben sie ihrem knapp zehn Meter langen Frachter eine der modernsten und präzisesten Docking-Technologien spendiert. Dank ihrer Hilfe wich das vierte ATV im Moment des Anlegens in gut 400 Kilometer Höhe nur elf Millimeter von der optimalen Flugbahn ab. Zudem kann Europas Versorgungsschiff pro Flug mehr Güter transportieren als alle anderen Frachter, die derzeit die ISS ansteuern – über sieben Tonnen.
An Bord des fünften ATV befinden sich daher nicht nur Linsen und Käsespätzle – ein Gruß an den aus Württemberg stammenden Astronauten Alexander Gerst, der seit zwei Monaten auf der ISS lebt. Auch mehrere Versuchsanlagen haben die Ingenieure eingepackt, darunter den hauptsächlich von Deutschland entwickelten elektromagnetischen Levitator. Mit Hilfe des schrankgroßen Experiments wollen Materialforscher untersuchen, wie Legierungen ohne die störende Erdanziehungskraft schmelzen und erstarren. Es wiegt, dank seiner Wasserpumpe, der eigenen Stromversorgung und der Hochgeschwindigkeitskamera, stolze 400 Kilogramm – ein neuer Rekord für wissenschaftliche Nutzlasten an Bord des ATV.
Erstmals sind zudem die Wassertanks des Frachters mit 850 Litern randvoll. Für künftige Bahnkorrekturen der ISS hat das ATV außerdem knapp drei Tonnen zusätzlichen Treibstoff getankt. Insgesamt kommt der Raumtransporter somit auf eine Masse von mehr als 20 Tonnen – eine schwerere Fracht hat die "Ariane 5" nie zuvor ins All befördert.
Wie geht es weiter?
Trotz dieser Anstrengung – oder gerade deswegen – herrscht Abschiedsstimmung. "Unser ATV hat mehr Logistikleistung erbracht, als wir am Anfang angenommen hatten", sagt Nico Dettmann, Leiter der Abteilung Raumtransport bei der Europäischen Weltraumagentur ESA. Sprich: Es wurden nicht, wie zunächst gedacht, bis zu neun Flüge benötigt, um die versprochenen 28 Tonnen zur ISS zu transportieren, sondern nur fünf. Versuche, noch ein oder zwei weitere ATV in Auftrag zu geben, um die Betriebskosten bis 2020 begleichen zu können, scheiterten letztlich am Widerstand Frankreichs. "Leider wird die ESA von einigen Mitgliedsländern einzig als Forschungs- und Entwicklungsagentur verstanden", kritisiert DLR-Vorstandsvorsitzender Johann-Dietrich Wörner. "Entwicklung ohne Fortsetzung ist für uns aber kein Thema, das ist nichts Vernünftiges."
Auch die Industrie ist vom frühen Aus des ATV nicht begeistert. "Man kann nur sagen: schade", meint Bart Reijnen, Leiter für die bemannte Raumfahrt bei Airbus Defence and Space, wo der Frachter federführend gebaut worden ist. "Natürlich hätten wir noch gerne ein sechstes und siebtes ATV gebaut." Stattdessen darf Airbus nun ein Antriebs- und Versorgungsmodul für die nächste amerikanische Raumkapsel namens "Orion" entwickeln.
Es ist durchaus ein Coup für die Europäer: Noch nie zuvor hat die NASA eine andere Raumfahrtagentur an den kritischen Komponenten einer derart ambitionierten Mission beteiligt – immerhin soll "Orion" die Amerikaner eines Tages zurück zum Mond, zu einem Asteroiden und vielleicht sogar zum Mars bringen. "Im Grunde war das ATV dafür unsere Eintrittskarte", sagt Dettmann. "Mit ihm haben wir nicht nur unsere technischen Fähigkeiten bewiesen, wir haben auch gezeigt, wie zuverlässig Europa als internationaler Partner ist."
Jetzt müssen die Europäer ihre Zuverlässigkeit aber auch unter Beweis stellen: Noch ist das 450 Millionen Euro teure Servicemodul nicht komplett finanziert. Lediglich 250 Millionen Euro haben die ESA-Mitgliedsstaaten bislang genehmigt, weitere 200 Millionen sollen Ende des Jahres hinzukommen – wenn sich alle Partner einig sind. Damit wären dann zwar die Schulden bei der NASA bis zum Jahr 2020 beglichen, die eigenen europäischen ISS-Kosten, beispielsweise für die Infrastruktur am Boden, schlagen aber mit weiteren 600 Millionen Euro zu Buche. Noch ist unklar, ob die ESA-Staaten so viel Geld aufbringen können und wollen.
"Das werden wir schon schaffen", sagt Volker Schmid und schmunzelt. Der Ingenieur lässt sich die gute Laune an diesem Abend nicht nehmen. Fünf ATV, fünf erfolgreiche Starts sind für Schmid kein Grund zum Wehklagen, sie sind ein Grund zur Freude, ein Grund, auf das Erreichte stolz zu sein. Und auch aus persönlicher Sicht hat Schmid Grund zu feiern: Auf den allerletzten Drücker, gerade noch rechtzeitig für den allerletzten Flug des ATV, ist sein eigener ISS-Versuch fertig geworden: Mit "Magvector" will Schmid die Wechselwirkung zwischen dem Erdmagnetfeld und einem elektrischen Leiter untersuchen. Das Experiment verschwindet da gerade – mitsamt dem blassen Lichtpunkt und dem fünften ATV – im Nachthimmel über Kourou.
Offenlegung: Die Recherchereise nach Kourou wurde ermöglicht durch eine Einladung des Raumfahrtkonzerns Airbus Defence and Space und der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, die sich an den Reisekosten beteiligt haben.
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