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Paläoanthropologie: Der Mensch, ein geborener Fleischesser?

Viele suchen heute in der fernen Vergangenheit nach einer Rechtfertigung für ihren Fleischkonsum. Doch Fachleute bezweifeln zunehmend, dass Fleisch zur Menschwerdung beitrug.
Höhlenmalerei
Schon unsere Vorfahren jagten und aßen Tiere. Das belegen Ausgrabungen und Höhlenmalereien wie diese in Spanien. Aber ist das ein Grund dafür, es heute immer noch zu tun?

Seit etwa 2,5 Millionen Jahren gibt es Menschen. Und seit mindestens 2,4 Millionen Jahren essen Menschen Tiere. Das belegen Schnittspuren an fossilen Tierknochen, überlieferte Steinwerkzeuge und Analysen der Zähne unserer Vorfahren. Während Homo habilis und Homo rudolfensis wohl anfangs nur hier und da mal eine Eidechse verspeisten oder sich an den Fleischresten labten, die andere Raubtiere zurückgelassen hatten, ging bereits Homo erectus gezielt selbst auf die Jagd. Heute isst rein statistisch jeder Deutsche rund 1100 Tiere in seinem Leben – darunter 1000 Hühner, 45 Schweine und 5 Rinder. Diese Zahl klingt nicht nur absurd hoch, sie wirft inzwischen auch mehr und mehr die Frage auf: Ist das wirklich nötig?

Einer bekannten Theorie zufolge machte erst der Fleischkonsum den Menschen zum Menschen (»Meat made us human«). Bereits Mitte der 1950er Jahre prägte der Paläoanthropologe Raymond Dart die Vorstellung, dass unsere frühen Vorfahren Tiere jagten, um in der kargen afrikanischen Savanne zu überleben. In den 1990er Jahren stellten Leslie Aiello und Peter Wheeler schließlich die Hypothese des teuren Gewebes (»expensive tissue«) auf, laut der sich im Zuge der Entwicklung des menschlichen Gehirns anderes Gewebe zurückbilden musste. Sie wollten damit die Frage beantworten, woher die frühen Homininen die Energie für ihr immer größer werdendes Denkorgan nahmen. Betrug das Hirnvolumen von Homo rudolfensis noch etwa 750 Kubikzentimeter, waren es bei Homo erectus bereits bis zu 1250 Kubikzentimeter. Homo sapiens bringt es heute sogar auf 1100 bis 1800 Kubikzentimeter.

Das menschliche Gehirn ist ein enorm teures Organ. Obwohl es nur wenige Prozent der Körpermasse ausmacht, verschlingt es gut ein Fünftel der Gesamtenergie. Fleisch (dabei vor allem Innereien wie Leber, Herz oder Zunge) weist im Vergleich zu Wurzeln, Blättern und vielen anderen Pflanzenteilen eine recht hohe Nährstoffdichte mit vielen Proteinen und vor allem Fetten auf. Wird es zusätzlich zerkleinert, spart man sich viele Kaubewegungen, wodurch sich die energiereiche Nahrung mit geringem Energieverbrauch aufnehmen lässt. Verkleinern sich zudem Magen und Darm, wird auch für die Verdauung weniger Energie benötigt. Der Überschuss kann dann in die Entwicklung und den Betrieb des Gehirns gesteckt werden – so die Argumentation.

Damit rechtfertigen heute viele Menschen ihren übermäßigen Fleischkonsum – vor sich selbst und vor anderen. Der moderne Mensch sei eben ein geborener Fleischesser, das zeige der Blick auf die Menschheitsgeschichte. Mehr noch: Die Beherrschung des Feuers, die Entwicklung der Sprache, der Ursprung von Arbeitsteilung, der Beginn sozialer Hierarchien und sogar die Entstehung der Kultur könnten mit dem Jagen und dem Verzehr von Fleisch zusammenhängen. Entsprechend sei der Fleischverzehr ein natürliches Bedürfnis des Menschen, Vegetarismus hingegen unnatürlich, womöglich sogar gesundheitsschädlich.

Wir entwickeln uns stetig weiter

Wer so argumentiert, übersieht allerdings, dass die Evolution des Menschen nicht abgeschlossen ist, sondern wir uns stetig weiterentwickeln. Was für unsere Vorfahren galt, muss heute nicht immer noch so sein. Es hat sich zum Beispiel die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, ihre Zusammensetzung und die Zubereitung enorm gewandelt, seit Frühmenschen auf den Geschmack von Fleisch kamen. Wir müssen längst keinen halben Tag mehr auf die Pirsch gehen, um ein Tier zu erlegen. Moderne Züchtungsmethoden haben den Nährstoffgehalt in pflanzlicher Kost deutlich erhöht. Und wir haben mit der Zeit gelernt, unsere Nahrung zu kochen, um sie leichter verdauen und die Nährstoffe besser erschließen zu können.

Fleisch ist heute kein Luxusprodukt mehr, im Gegenteil: Ein Schnitzel ist manchmal billiger als ein Sack Kartoffeln. Die Herstellung verbraucht jedoch ein Vielfaches an Ressourcen. 77 Prozent der weltweiten Ackerflächen werden für die Fleisch- und Milchproduktion verwendet, obwohl tierische Produkte gerade einmal 18 Prozent des weltweiten Kalorienbedarfs decken. Selbst wenn es einen evolutionären Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Menschwerdung geben sollte, wären wir heute dazu in der Lage, uns davon zu emanzipieren.

Zahlreiche paläoanthropologische Studien zweifeln die »Meat made us human«-Theorie zudem inzwischen an oder widerlegen sie. So fand ein Team um Ana Navarrete von der Universität Zürich in umfangreichen Analysen keine weiteren Belege im Tierreich für die Hypothese des teuren Gewebes. Zwar »hat diese höchst intuitive Idee in der Paläoanthropologie und vielen anderen Bereichen breite Akzeptanz gefunden und heizt die öffentlichen Diskussionen über die optimale menschliche Ernährung an«, schrieb die Gruppe 2011 im Fachmagazin »Nature«. Doch: »Im Gegensatz zu den Vorhersagen der Hypothese fanden wir keinen Zusammenhang zwischen der Größe des Gehirns und der des Verdauungstrakts bei Säugetieren oder bei nichtmenschlichen Primaten.« Das bedeutet so viel wie: Es wäre höchst verwunderlich, wenn das Prinzip einzig auf die Evolution des Menschen zuträfe.

»Unsere Studie bringt die Vorstellung ins Wanken, dass der Verzehr großer Fleischmengen die evolutionären Veränderungen bei unseren frühen Vorfahren vorangetrieben hat«Andrew Barr, Paläoanthropologe

In einer Untersuchung aus dem Jahr 2022 betrachtete eine Forschungsgruppe um Andrew Barr von der George Washington University und Briana Pobiner vom Smithsonian National Museum of Natural History die angeblichen archäologischen Belege für die »Meat made us human«-Theorie noch einmal systematisch. Die Wissenschaftler trugen Daten von 59 Fundorten aus neun großen Forschungsgebieten in Ostafrika zusammen, die zwischen 2,6 und 1,2 Millionen Jahre alt sind – und relativierten anschließend alle bisherigen Knochenfunde. Archäologische Beweise für den Fleischkonsum nähmen mit dem Aufkommen der Spezies Homo erectus zwar stark zu, berichteten die Forscherinnen und Forscher in der Fachzeitschrift »PNAS«. Jedoch sei dies vor allem darauf zurückzuführen, dass auf diesem Zeitraum der Stammesgeschichte ein besonderer wissenschaftlicher Fokus liege. In der Folge werde das Bild verzerrt und der Zusammenhang zwischen dem Essen von Fleisch und der Entwicklung der Gattung Homo fälschlich unterstrichen. »Unsere Studie bringt die Vorstellung ins Wanken, dass der Verzehr großer Fleischmengen die evolutionären Veränderungen bei unseren frühen Vorfahren vorangetrieben hat«, sagte Barr laut einer Pressemitteilung seiner Universität.

Der Harvard-Primatologe Richard Wrangham geht sogar noch weiter. Er argumentiert, dass die größte Revolution in der menschlichen Ernährung nicht stattgefunden habe, als wir anfingen, Fleisch zu essen, sondern als wir zu kochen lernten. Durch das Stampfen und Erhitzen von Lebensmitteln würden diese »vorverdaut«, so dass unser Körper weniger Energie aufwenden muss, um sie aufzuspalten. Durch gekochte Nahrung könne der Mensch damit mehr Energie aufnehmen als durch rohe Nahrung, und so letztlich mehr Brennstoff in kürzerer Zeit für das Gehirn gewinnen.

Wrangham testete seine Theorie, indem er Ratten und Mäusen rohes und gekochtes Futter anbot. Das Ergebnis: Mäuse, die mit gekochtem Futter aufgezogen wurden, nahmen 15 bis 40 Prozent mehr an Gewicht zu als Mäuse, die nur rohe Nahrung erhielten. Ob gekochte Nahrung wirklich der entscheidende Treiber hinter der menschlichen Evolution war, lässt sich im Detail allerdings nur schwer belegen: Feuerstellen hinterlassen deutlich vergänglichere Spuren als Steinwerkzeuge und Knochen. Sie sind daher schwieriger nachzuweisen und zu datieren. Womöglich begann der Mensch schon viel früher, seine Nahrung weich zu kochen, als wir bislang denken.

Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolgs

Die Kehrseite von Wranghams Hypothese ist, dass wir heutzutage möglicherweise Opfer unseres eigenen Erfolgs geworden sind. Wir sind inzwischen so gut darin, Lebensmittel zu verarbeiten, dass viele Menschen zum ersten Mal in der menschlichen Evolution mehr Kalorien zu sich nehmen, als sie am Tag verbrennen können. »Nach Jahrtausenden der Nahrungsmittelknappheit leben wir seit fast 70 Jahren in einem Nahrungsmittelüberfluss. Damit kann unser Körper nicht umgehen«, sagt Hans Hauner, Professor für Ernährungsmedizin an der TU München. »Wir sehen heute, dass ein hoher Fleischkonsum das Leben vieler Menschen verkürzt und zu zahlreichen Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Beschwerden beitragen kann.« Es täte uns daher gut, den Fleischverzehr deutlich zu reduzieren und statt durchschnittlich mehr als ein Kilogramm pro Woche nur noch 300 bis 600 Gramm zu uns zu nehmen – also etwa die Hälfte.

Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat Fleisch ohnehin nie andere Nahrungsbestandteile vom Speiseplan verdrängt, sondern war immer eine Ergänzung. Es ist ein wenig so, als würde man eine Stadt mit einem U-Bahn-System ausstatten: Es ersetzt nichts, es erhöht nur die Effizienz. »Der Mensch hat im Lauf seiner Evolution stets das verzehrt, was für ihn verfügbar war«, erklärt Hauner. Somit mache uns nicht der Fleischkonsum zum Menschen, sondern vielmehr unsere enorme metabolische Anpassungsfähigkeit. »Der Mensch ist im Unterschied zu vielen anderen Tieren in der Lage, aus verschiedenen Nahrungsquellen in seinem Umfeld das zu extrahieren, was ihm das Überleben sichert.« Unsere Muskulatur kann Kohlenhydrate verbrennen, aber ebenso Fettsäuren verstoffwechseln. Genauso kann auch unser Gehirn von einer zuckerbasierten zumindest teilweise auf eine ketogene Versorgung umstellen.

Lutz Kindler vom Leibniz-Zentrum für Archäologie kann dem aus paläoanthropologischer Sicht nur zustimmen: »Tiere sind im Gegensatz zu Pflanzen unabhängig von der Jahreszeit und selbst in den unwirtlichsten Regionen dieser Erde verfügbar«, sagt er. »Als Menschen begonnen haben, sich von Afrika aus in Richtung Norden zu bewegen, bot es also viele Vorteile, weitere, nichtpflanzliche Nahrungsquellen zu erschließen.« Hinzu kamen die sozialen Aspekte der Jagd und des Fleischverzehrs. »Die Menschen mussten sich organisieren, um trotz ihrer körperlichen Unterlegenheit große Tiere erlegen und zerteilen zu können.« Das schweißte sie vermutlich zusammen. Fleisch und dessen Erbeutung habe deshalb vor allem Einfluss auf unsere Verhaltensevolution gehabt. »Aus meiner Sicht war und ist Fleisch aber nicht zwingend ernährungsrelevant. Proteine allein haben keinen besonders hohen Brennwert«, schiebt Kindler hinterher.

»Es gibt heute etliche Leistungssportler, die sich rein vegetarisch oder vegan ernähren. Man kann also Muskeln und Gehirn auch mit pflanzlichen Proteinen optimal versorgen«Hans Hauner, Ernährungsmediziner

Bleibt die Frage, ob wir heute überhaupt noch auf tierische Proteine und die in Fleisch enthaltenen Mikronährstoffe angewiesen sind. »Für eine gesunde Ernährung ist es nicht nötig, Fleisch zu essen, da alle darin enthaltenen Nährstoffe auch in anderen Lebensmitteln vorkommen«, schreibt etwa die Verbraucherzentrale zu dem Thema. Und auch Hans Hauner gibt zu bedenken: »Es gibt heute etliche Leistungssportler, die sich rein vegetarisch oder vegan ernähren. Man kann also Muskeln und Gehirn auch mit pflanzlichen Proteinen optimal versorgen.«

Zwar hätten Studien weltweit gezeigt, dass eine ausgewogene, gesunde Ernährung Fleisch-, Milch- und andere tierische Produkte in einem gewissen Umfang enthalten sollte. »Wirklich herausfordernd ist aber einzig eine vegane Lebensweise«, sagt Hauner. »Und selbst da gibt es in der heutigen Zeit zahlreiche Möglichkeiten, die fehlenden Stoffe zu ersetzen.«

Kindler ist der Ansicht, dass Geschmack und Nahrungsquellen »tradiert und eher eine soziale Frage als eine der physiologischen Evolution oder des Instinkts sind«. Würden die Menschen sich also wieder mehr auf den Speiseplan ihrer Vorfahren besinnen, mehr heimisches Obst und Gemüse essen und deutlich weniger Fleisch zu sich nehmen, wäre das eine gute Nachricht für ihre Gesundheit – und für unseren Planeten. Denn die enorme Anpassungsfähigkeit des Menschen und sein unstillbarer Appetit auf Fleisch sind heute vor allem eins: eine ökologische Katastrophe.

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