Anderes Ökosystem, gleiche Gründe: In Bolivien brennt mehr Wald als in Brasilien
Anfang Oktober 2019 beendeten die ersten Regenfälle nach der Trockenzeit die verheerenden Brände in Bolivien. Über zwei Monate lang hatten Wälder, Savannen und Weideland gebrannt. Die Feuer forderten mindestens fünf Tote und verbrannten über 5,3 Millionen Hektar Land, was mehr als der gesamten Fläche der Niederlande entspricht. Im am schlimmsten betroffenen Departamento Santa Cruz, im Osten des Landes, brannten 3,6 Millionen Hektar – fast fünfmal so viel wie im Vorjahr und 700 000 Hektar mehr als im bislang schlimmsten Brandjahr 2010.
Im Gegensatz zu den Waldbränden im brasilianischen Amazonasgebiet waren in Bolivien weniger tropische Regenwälder von den Bränden betroffen: Vielmehr brannten Trockenwälder, wie der Chiquitano-Trockenwald in der Region Chiquitanía in Santa Cruz. Der Chiquitano bildet den Übergangsbereich zwischen den feuchten Tieflandregenwäldern des Amazonas im Norden, den noch trockeneren Chaco-Wäldern, die sich südlich bis weit in den Norden Paraguays erstrecken, und der östlich angrenzenden offenen Trockensavanne des brasilianischen Cerrado. In dieser ökologisch einmaligen Zone ist je nach lokalem Klima, Topografie und Boden ein abwechslungsreiches Landschaftsmosaik aus immergrünen feuchten Wäldern, Laub abwerfenden Trockenwäldern, lichten Wäldern und Baumsavannen (lokal »pampa monte« oder »abajoy« genannt), natürlichem Grasland, Weideland, Überschwemmungssavannen, Feuchtgebieten und Flüssen entstanden. In dem Gebiet leben Jaguare, Pumas, Mähnenwölfe, Tapire, Ameisenbären, Riesengürteltiere sowie eine Vielzahl von seltenen und teilweise nur hier vorkommenden Reptilien und Amphibien.
Die Vorstellung, dass in Bolivien über fünf Millionen Hektar tropischer Regenwald gebrannt hätten, ist also falsch. Vielmehr waren verschiedenste Wald- und Graslandökosysteme betroffen. Darunter auch 330 000 Hektar Rinderweiden, auf denen jedes Jahr die hohen, meist aus Afrika stammenden Weidegräser abgebrannt werden, um Platz für frisches, weidetaugliches Gras zu schaffen. Das Ausmaß der Brände ist deswegen aber nicht weniger katastrophal. Allein im Departamento Santa Cruz ist den Flammen eine Trockenwaldfläche von 1,4 Millionen Hektar zum Opfer gefallen – ein immenser Verlust. Zum Vergleich: Die gesamte von Brandrodung betroffene Regenwaldfläche im brasilianischen Amazonasgebiet lag im Jahr 2019 nach Schätzungen des Amazonas-Anden-Monitoring-Projekts (MAAP) bei 1,25 Millionen Hektar.
Farbenpracht im trockenen Wald
Tropische Trockenwälder sind durch eine ausgeprägte, mehrere Monate andauernde Trockenzeit gekennzeichnet, in der die meisten Bäume ihr Laub abwerfen. Einige Arten bilden in der Trockenzeit Blüten und Früchte, um ihren Samen rechtzeitig zu Beginn der feuchteren Jahreshälfte die besten Startbedingungen zu geben. Sie leuchten dann wie bunte Farbkleckse aus dem sonst kahlen Wald. Das sind zum Beispiel verschiedene Trompetenbäume der Gattung Tabebuia, die goldgelb, pink oder weiß blühen, oder die weltweit in den Tropen als Ziergehölz kultivierten, blassviolett blühenden Jacaranda-Bäume. In ihrer Artenvielfalt stehen diese Trockenwälder den populäreren tropischen Regenwäldern nicht in viel nach.
Betrachtet man den Jahresniederschlag, sind die »Trockenwälder« auch gar nicht so trocken, wie es der Name vermuten lässt. Im bolivianischen Chiquitano fallen gut 900 Millimeter Jahresniederschlag, was in etwa dem gesamtdeutschen Durchschnittswert entspricht und deutlich über dem mittleren Jahresniederschlag von Berlin mit zirka 600 Millimetern liegt. Der Regen ist im Trockenwald allerdings sehr ungleichmäßig über das Jahr verteilt, und die Verdunstungsrate liegt deutlich höher. In der regenreichen Jahreshälfte zwischen Oktober und April fällt ein Großteil des Niederschlags. Der Wald ist dann üppig dicht und grün.
Tropische Trockenwälder waren einst in weiten Teilen Lateinamerikas verbreitet, von Mexiko und Kuba im Norden bis nach Bolivien, Argentinien und Paraguay im Süden. Vielerorts mussten sie bereits Agrar- und Siedlungsflächen weichen, was auch daran liegt, dass sie sich durch Brandrodung zur Trockenzeit leichter entwalden lassen als die feuchten tropischen Regenwälder. Viele Experten halten Trockenwälder deshalb für die am stärksten bedrohten Ökosysteme des tropischen Tieflands. Während die pazifischen Trockenwälder etwa in Mittelamerika durch den Menschen bereits auf Bruchteile ihrer ursprünglichen Ausdehnung reduziert wurden, beherbergt das zentralsüdamerikanische Tiefland südlich und südöstlich des Amazonasbeckens mit dem Chiquitano-Wald in Bolivien und der brasilianischen Caatinga-Region die weltweit größten verbliebenen Wälder dieser Art.
Außergewöhnliche Trockenheit 2019
Wenn im Trockenwald die Sonne während der Trockenzeit nahezu ungehindert durch die kahlen Baumkronen dringt, trocknen das Unterholz und die Laubstreu aus und zersetzen sich nur langsam. Je nach Waldtyp sammelt sich darum viel brennbares Material an, und die Feuergefahr steigt. So gab es seit dem ebenfalls verheerenden Brandjahr 2010 in den Jahren zuvor relativ wenige Brände, so dass sich viel Brennstoff ansammeln konnte, und die erste Jahreshälfte 2019 war die trockenste seit 20 Jahren. Nach Daten des bolivianischen Meteorologischen Instituts SENAMHI lagen die Niederschläge in der Region Chiquitanía in den ersten sieben Monaten des Jahres 2019 um 62 Prozent unter dem langjährigen Mittel der Jahre 1981 bis 2018. Hohe Temperaturen und starke Winde fachten die Feuer zusätzlich an.
Während Feuer in Savannen und Baumsavannen zum Ökosystem dazugehören, sind natürliche Waldbrände in intakten Trockenwäldern eher selten, wie Sebastian Herzog, deutscher Ökologe und wissenschaftlicher Leiter der bolivianischen Naturschutzorganisation Asociación Armonía, erläutert: »Das Mikroklima ist in den meisten intakten Trockenwäldern zu feucht, als dass Brände oft und großflächig auftreten würden; außerdem kommt es während der Trockenzeit selten zu Gewittern, also auch nicht zu Blitzschlägen.« Aber wer wolle, könne den Wald während der Trockenzeit natürlich leicht in Brand stecken, ergänzt Herzog, der seit über 20 Jahren in Bolivien lebt und arbeitet.
Mehr Rinder, weniger Wald
Warum aber sollten die Bolivianer ihre Wälder in Brand stecken? Brandrodungen auf kleineren Flächen, so genannte »chaqueos«, werden in der Region Chiquitanía jedes Jahr in der Trockenzeit vorgenommen, um neues Weide- oder Ackerland zu gewinnen. Bei den lokalen Bauern, die hauptsächlich Subsistenzlandwirtschaft betreiben, betrifft das jedoch nur einen halben Hektar pro Familie. Die Gefahr für den Wald liegt eher darin, dass Brände außer Kontrolle geraten. Dass im Jahr 2019 Millionen Hektar Wald brannten, lag allerdings nicht nur an der außergewöhnlichen Trockenheit, meint Sebastian Herzog: »Es geht dabei oft um neues Land für Rinderbarone, große Agrarbetriebe und regierungstreue Wählergruppen, da unterscheidet sich die Regierung Morales wenig von der Bolsonaros. Der überwiegende Teil der lokalen Bevölkerung hat davon nur Nachteile.« Allein im August 2019 wurden im Departamento Santa Cruz 83 000 Brände gelegt. Herzog berichtet, dass in manchen Wäldern Autoreifen aufgestapelt, mit Benzin übergossen und angezündet wurden. »Damit kann man jede Art von Wald abfackeln, selbst wenn es nicht besonders trocken ist«, sagt er.
Es geht dabei oft um neues Land für Rinderbarone, große Agrarbetriebe und regierungstreue Wählergruppen
So müssen auch in Bolivien immer mehr Wälder für Rinderweiden, Soja-, Chia- oder Sonnenblumenfelder, Coca- oder Zuckerrohrplantagen weichen. Erst im Juli 2019 hatte die Regierung von Evo Morales den Beginn von Rindfleischexporten nach China gefeiert und dazu ein Dekret erlassen, das die »kontrollierte Brandrodung« vereinfacht.
Schutzgebiete und indigene Gemeinden stark betroffen
Die Brände fraßen sich bis weit in Nationalparks und Naturschutzgebiete hinein. Im Otuquis-Nationalpark im bolivianischen Teil des weltberühmten Pantanal-Feuchtgebiets, im San-Matías-Nationalpark, der Teile des Chiquitano-Trockenwalds schützt, und im Ñembi-Guasu-Park im Chaco-Trockenwald an der Grenze zu Paraguay ist jeweils etwa ein Drittel der Waldfläche abgebrannt. Insgesamt waren mehr als 18 000 Quadratkilometer Schutzgebietsfläche betroffen – was etwa der Fläche ganz Sachsens entspricht. Unter den Folgen der Brände leidet vor allem die lokale Bevölkerung, die von kleinräumiger Land- und Forstwirtschaft lebt, unter anderem indigene Volksgruppen wie die Ayoreo, die seit Jahrhunderten in Ñembi Guasu leben.
Aus einigen besonders stark betroffenen indigenen Gebieten (Territorio Indígena, TIOC) nordöstlich der Provinzhauptstadt Santa Cruz de la Sierra mussten etliche Familien evakuiert werden. Allein im TIOC Monte Verde verbrannte ein Fünftel des gesamten Territoriums – 225 000 Hektar, nahezu die Fläche des Saarlands. In einigen kleineren Indigenen-Gebieten wie in Zapocó und Santa Teresita war es zwar flächenmäßig weniger, aber dort wurde mehr als die Hälfte der gesamten Gemeindefläche von den Feuern verwüstet. Die Familien konnten zwar inzwischen auf ihr Land zurückkehren, doch die Wälder werden viele Jahrzehnte bis Jahrhunderte brauchen, um wieder nachzuwachsen.
Ähnlich wie die Regenwälder des Amazonasbeckens speichern auch die tropischen Trockenwälder riesige Wassermengen und produzieren über die Verdunstung einen beträchtlichen Teil ihres Regens selbst. Fehlt der Wald, bleibt der Regen aus. Hinzu kommt ein durch den Klimawandel bedingter Rückgang der Niederschläge, den Klimamodelle schon vor mehr als zehn Jahren für viele Trockenwaldregionen Amerikas vorhergesagt haben. Die Trockenzeit verlängert sich teilweise um Wochen und Monate, und ab einem bestimmten Punkt großflächiger Entwaldung leidet dann selbst bislang intakter Wald an Wassermangel. Dort, wo der Wald verschwindet, steigen Temperaturen und Trockenheit, Holz, Früchte und Trinkwasser fehlen, Menschen, Tiere und Pflanzen verlieren ihre Lebensgrundlage. Ein Teufelskreis, von dem niemand genau weiß, wann er sich verselbstständigt. Manche Wissenschaftler sehen den Kipppunkt für das Amazonasgebiet bereits in den nächsten fünf Jahren kommen, andere rechnen mit 15 bis 20 Jahren.
Schonende Waldnutzung
Juan Carlos Montero stammt aus der Provinzhauptstadt Santa Cruz de la Sierra im bolivianischen Tiefland und hat dort und in Freiburg im Breisgau Forstwissenschaft studiert. Momentan forscht er am Instituto Boliviano de Investigación Forestal (IBIF), und ihm liegt viel daran, die Wälder seiner Heimat zu schützen. Dazu arbeitet er mit lokalen und internationalen Partnern daran, die natürliche Wiederbewaldung zu fördern und der lokalen Bevölkerung Wege zur nachhaltigen Nutzung des Walds und seiner außergewöhnlichen Biodiversität aufzuzeigen. »Wir wollen vor allem die natürlich nachwachsenden Bäume gezielt fördern, weil das weniger aufwändig und deutlich erfolgversprechender ist, als mit Setzlingen aus der Baumschule aufzuforsten«, sagt Montero. Dadurch erhalte man auch am ehesten stabile, standortangepasste Wälder zurück. Allein in der Chiquitanía-Region wachsen hunderte verschiedene Baumarten, die speziell an die harschen Bedingungen im Trockenwald angepasst sind. Viele haben wertvolles Holz, das vor Ort als Bau- und Möbelholz genutzt werden kann. Ein Projekt stellt dazu ein tragbares Minisägewerk zur Verfügung, mit dem Bretter direkt zugesägt werden können. Auch der Tourismus sowie die Zucht von Heil- und Zierpflanzen dienen der naturverträglichen Nutzung des Walds.
Politik gegen Wald und Natur
Große Teile der Bevölkerung des bolivianischen Tieflands im Departamento Santa Cruz und auch weite Teile der gebildeteren Bevölkerungsschichten in ganz Bolivien sehen in der Regierungspolitik einen Frevel gegen die Natur. Sie werfen der Regierung von Evo Morales vor, sie habe zu spät und zu zögerlich auf die Brände reagiert und mit der Förderung der Umwandlung von Wald in Rinderweiden und Ackerflächen den Boden für viele außer Kontrolle geratene Brände bereitet. Darum marschierten von Mitte September bis Mitte Oktober 2019 tausende Bolivianer aus der Provinz Santa Cruz in einem langen Protestmarsch von San Ignacio de Velasco über 480 Kilometer bis nach Santa Cruz de la Sierra. Auch in La Paz und anderen Städten versammelten sich hunderttausende Menschen, um im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober 2019 gegen die Politik der Regierung zu demonstrieren.
Bolivien am Scheideweg
Die zu Beginn seiner Amtszeit von Präsident Evo Morales erzielten Erfolge beim Schutz der natürlichen Ressourcen Boliviens wurden in den letzten zehn Jahren immer weiter ausgehöhlt. Seit 2015 ist die Erdöl- und Erdgasexploration in Schutzgebieten erlaubt, Straßen werden durch Nationalparks gelegt, und immer mehr große Staudämme, gebaut für den Energieexport nach Brasilien, beeinträchtigen wertvolle Flussökosysteme. 2014 fasste die Regierung den Vorsatz, die Landwirtschaftsfläche innerhalb von zehn Jahren von 3,5 auf 13 Millionen Hektar fast zu vervierfachen, und im Amazonasgebiet im Norden des Landes breitet sich seit einigen Jahren der Goldabbau aus. Dabei war Morales während seiner ersten Amtszeit, die im Januar 2006 begann, noch als Held der Umweltbewegung und Verteidiger der Rechte der indigenen Bevölkerung gehandelt worden. Im Jahr 2010 verankerte die Regierung sogar die Rechte von Mutter Erde in der bolivianischen Verfassung. Mehr als 15 Prozent des Landes sind als Schutzgebiete ausgewiesen. Gerade scheinen sich aber viele gute Vorsätze und umweltpolitische Erfolge buchstäblich in Rauch aufzulösen.
Bei diesen Wahlen trat Morales erneut an, obwohl die Bolivianer in einer Volksabstimmung im Jahr 2016 gegen die Möglichkeit einer weiteren Amtszeit votiert hatten. Ermöglicht wurde die neuerliche und damit vierte Kandidatur nur durch eine umstrittene verfassungsrichterliche Entscheidung. Bei der Auszählung des Wahlergebnisses vom 20. Oktober gab es dann massive Unregelmäßigkeiten, die auch unabhängige Wahlbeobachter bestätigten. Die Wahlleitung erklärte Morales trotzdem zum Wahlsieger, woraufhin die Opposition und viele zivilgesellschaftliche und kirchliche Gruppen zu Streiks und Protesten aufriefen. Offen blieb, ob es doch noch zu einer Stichwahl zwischen Morales und dem Oppositionsführer Carlos Mesa kommt.
Die Brände und die Wahlen lenken den Blick der Weltöffentlichkeit auf Bolivien, das politisch an einem Scheideweg steht. Gelingt es, den zu Beginn von Morales' Amtszeit eingeschlagenen Pfad der nachhaltigen Nutzung wiederzufinden, oder schreitet man weiter in Richtung schnelles Wachstum einzelner devisenträchtiger Industrien im Agrar- und Energiesektor voran? Neben einem nationalen Politikwechsel fordern viele bolivianische Wissenschaftler auch eine entschiedenere Reaktion der internationalen Gemeinschaft, etwa Sanktionen gegen Bioethanol, Soja und Rindfleisch. Bereits im Mai 2019, zwei Monate vor Ausbruch der verheerenden Waldbrände, warnten sie in einem Kommentar in der Fachzeitschrift »Nature«, sonst könne Bolivien bis zum Jahr 2050 die Hälfte seiner verbliebenen Wälder verlieren.
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