Unglück vor 62 Jahren: Seltene Lawine soll Rätsel um Djatlow-Pass erklären
Von Außerirdischen entführt? Einem Raketentest zum Opfer gefallen? Das Schicksal einer russischen Wandergruppe, die im Ural unter rätselhaften Umständen verschwand, gab über Jahrzehnte Anlass zu wilden Spekulationen. Die sieben Männer und zwei Frauen zelteten am 1. Februar 1959 am Djatlow-Pass nahe dem Berg Cholat Sjachl; Wochen später fanden Suchtrupps ihre Leichen im Schnee. Was ihnen zugestoßen war, erschien mysteriös. Die Opfer, allesamt wander- und bergerfahren, hatten anscheinend ein Loch ins Zelt geschnitten und waren in höchster Eile hangabwärts geflohen – unzureichend bekleidet bei Temperaturen von 40 Grad unter dem Gefrierpunkt.
Doch was sie aus ihrem Schutz in den Tod getrieben hatte, darauf fanden die Suchtrupps keinen Hinweis – dafür angeblich aber rätselhafte Spuren von Radioaktivität. Zudem waren mehrere der Opfer schwer an Kopf und Oberkörper verletzt, ohne das ein direkter Grund ersichtlich gewesen wäre. Im Juni 2020 stellte die Generalstaatsanwaltschaft des Urals ihren Abschlussbericht vor. Demnach habe ein Wetterumschwung eine Lawine ausgelöst, die die Gruppe aus dem Zelt trieb. Eine weitere Lawine habe dann bei einem Teil der Gruppe die schweren Verletzungen verursacht.
Das allerdings lasse Fragen offen, berichten nun Johan Gaume von der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) und Alexander Puzrin von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. So seien die Verletzungen nicht typisch für Lawinenopfer. Insbesondere habe die Behörde keine Erklärung vorgelegt, warum sich an einem Hang, der dafür eigentlich nicht steil genug war, überhaupt die erste Lawine löste. Nun legen sie in »Communications Earth & Environment« eine mögliche Erklärung vor: Die sieben Männer und zwei Frauen fielen einer unwahrscheinlichen, um mehrere Stunden verzögerten Lawine zum Opfer. Eine Verkettung von Umständen führte dazu, dass ein scheinbar sicherer Hang zur Todesfalle wurde.
Natürlich hatten Fachleute die Möglichkeit einer Lawine untersucht – aber anfangs wieder verworfen. Die Wandergruppe hatte demnach, wie man angesichts ihrer Erfahrung auch vermuten würde, an einem Ort kampiert, an dem eine Lawine sehr unwahrscheinlich erschien. Nun allerdings weisen Gaume und Puzrin in »Nature« darauf hin, dass unwahrscheinlich eben nicht unmöglich bedeutet, und skizzieren die besonderen Umstände, unter denen sich am 1. Februar 1959 mitten in der Nacht direkt oberhalb des Zelts ein kleines Schneebrett löste und die Wanderer aus dem Zelt trieb.
Eine Verkettung unglücklicher Umstände
Ein wesentlicher Faktor ist demnach, dass die Gruppe eine kleine Eintiefung in den Hang grub, um ihr Zelt vor dem Wind zu schützen. Das ist normal und sinnvoll, wenn der Hang oberhalb des Zelts zu flach für eine Lawine ist. Allerdings war der Hang durchaus steil genug, um unter sehr speziellen Umständen den Schnee rutschen zu lassen – und nach Ansicht der beiden Forscher trafen die nötigen Faktoren am Djatlow-Pass zusammen. Tatsächlich besiegelte die relativ geringe Hangneigung nach Ansicht der Forscher sogar das Schicksal der Wandergruppe.
Unter der obersten, dünnen Schneeschicht nämlich befand sich eine Lage aus so genanntem Schwimmschnee, einer Schneelage, in der sich becherförmige Eiskristalle mit sehr schlechtem Zusammenhalt gebildet hatten. Auf einer solchen Lage kann ein Schneebrett leicht ins Rutschen geraten. Unglücklicherweise war der Neigungswinkel dieser Lage gerade in jenem schmalen Bereich, in dem eine Lawine weder unmöglich ist noch sofort abrutscht, so die Vermutung der Forscher.
Zusätzlich türmten starke Winde in der Nacht weiteren Schnee auf, dessen Gewicht nicht nur die Masse oberhalb der instabilen Lage erhöhte, sondern auf die Struktur des Schnees weiter veränderte. Das zusammenhängende Schneebrett oberhalb der instabilen Lage wurde außerdem hangaufwärts dünner, so dass der dickste Teil quasi an einem immer dünneren oberen Ende hing und schließlich abriss.
Das Schneebrett rutschte über den Überhang vor dem Zelt; nach Ansicht von Gaume und Puzrin reichte es, um die Gruppe hastig aus dem Zelt zu treiben und auch um die für Lawinenopfer untypischen Verletzungen zu erklären, war aber so klein, dass die Suchtrupps später keine sichtbaren Indizien für einen Lawinenabgang mehr erkennen konnten. Warum allerdings die neun erfahrenen Bergsteiger anschließend überstürzt und kaum bekleidet aus dem Zelt flüchteten, darauf bieten die beiden Forscher keine Antwort. Das werde wohl immer ein Teil des Rätsels um die Katastrophe am Djatlow-Pass bleiben, schreiben sie.
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