Wiederentdeckte Spezies: Wenn verloren geglaubte Tiere wieder auftauchen
Wohl selten war der Biologiestudent Gison Morib von einer Nachricht auf seinem Handy so elektrisiert wie an jenem Tag, als er nach einer einmonatigen Dschungelexpedition erschöpft im Bett lag und ein schlichtes Schwarz-Weiß-Foto auf seinem Bildschirm erschien. Morib rannte nach draußen, sprang auf sein Motorrad und raste durch die Stadt Sentani auf Indonesisch-Neuguinea zur Expeditions- und Forschungsbasis seiner Kollegen. Dort brach er in Tränen aus. »Ich kann nicht glauben, dass wir ihn gefunden haben«, war alles, was er immer wieder sagen konnte. Das Foto zeigte die erste Sichtung eines Attenborough-Langschnabeligels(Zaglossus attenboroughi) seit mehr als 60 Jahren. Nachdem die Forscher drei Jahre lang Untersuchungen angestellt und vier Wochen lang durch die abgelegenen Zyklopenberge der Insel gewandert waren, hatte die Kamerafalle des Teams endlich ein Bild des Eier legenden Säugetiers eingefangen. »Bis heute kann ich das Gefühl nicht beschreiben«, sagt Morib, der an der nahe gelegenen Cenderawasih-Universität Biologie studiert.
Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist es mitunter schmerzhaft, zu dem Schluss zu kommen, dass eine ganze Art für immer verloren ist. Daher erklären sie eine Art, die mehr als zehn Jahre lang nicht offiziell gesichtet wird, manchmal einfach für vorübergehend »verschollen« oder »vermisst« – in der Hoffnung, dass sie irgendwann wiedergefunden wird –, anstatt sie ganz aufzugeben. Im Jahr 2023 führte diese Hoffnung zur Wiederentdeckung von Tieren wie dem Attenborough-Langschnabeligel, dem in Südafrika lebenden De Wintons Goldmull(Cryptochloris wintoni) und dem Ohrlosen Graslanddrachen (Tympanocryptis pinguicolla), einer australischen Eidechsenart, die ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr gesehen wurde. Und erst kürzlich wurde die Suche nach der mehr als 60 Jahre lang verschollenen Bayerischen Kurzohrmaus (Microtus bavaricus) mit einem Erfolg belohnt. Solche glücklichen Funde stützen auch die seit Jahrzehnten andauernde Suche nach Arten wie dem Elfenbeinspecht(Campephilus principalis), der zuletzt 1944 gesehen wurde.
Eine internationale Studie, die im Januar 2024 veröffentlicht wurde, will nun »die Suche nach allen Säugetieren, Amphibien, Reptilien und Vögeln, die Verstecken spielen, wieder etwas mit Wissenschaft unterfüttern«, sagt der Biologe Thomas Evans. Er ist Hauptautor der Studie und Gastwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. In zwei Jahren Arbeit hat er mit einem Team von Fachleuten aus der ganzen Welt den – wie sie es nennen – bisher umfassendsten Katalog darüber erstellt, welche vierbeinigen Lebewesen in der Wissenschaft als verschollen galten und welche von ihnen später wiederentdeckt wurden.
Mehr als 800 Arten sind verschollen
Für Evans begann das Projekt vor Jahren, als er »ein großartiges, aber wirklich deprimierendes Buch« mit dem Titel »Extinct Birds« des Paläontologen Julian P. Hume las. Wie er erzählt, enthält das Werk auch einen Funken Hoffnung und Inspiration in Form eines Anhangs, in dem verschollene Arten aufgelistet sind, die wiedergefunden wurden. Obwohl es zahlreiche Untersuchungen über verschollene Arten gibt, wurden die Wiederentdeckungen seit 2011 nicht mehr gründlich untersucht, berichten die Autoren der Studie. Analysen, die Verluste und Wiederentdeckungen über alle Tiergruppen hinweg auflisten, sind laut dem Biologen sogar noch seltener.
Wie aus dem Katalog seines Teams hervorgeht, werden derzeit 856 Arten vermisst. Ihre Zahl wächst weltweit schneller, als die Expeditionsgruppen mit ihren Suchen mithalten können. Und das, obwohl die Forscher mit Hilfe immer ausgefeilterer Technologien Tiere finden. So gibt es mittlerweile Systeme, die DNA-Spuren aus der Umwelt (eDNA) von grabenden Vögeln in der Nähe des Südpols aufspüren, oder Software, welche die Geräusche verschiedener nachtaktiver Arten entschlüsselt. Mit speziellen Techniken lassen sich sogar mikroskopische Spuren von seltenen Fröschen im Magen von Schiffsratten nachweisen.
»Der Gedanke ist traurig, doch nach unserer Einschätzung werden die Menschen diese Arten wohl nicht mehr finden«Thomas Evans, Biologe
Rechnet man die Verluste und Wiederentdeckungen gegen, ergibt sich, dass etwa ein Viertel der verschollenen Arten wahrscheinlich bereits ausgestorben ist. »Der Gedanke ist traurig«, sagt Thomas Evans, »doch nach unserer Einschätzung werden die Menschen diese Arten wohl nicht mehr finden.« Viele wiedergefundene Arten entsprechen laut den Analysen einem bestimmten Profil: Es handelt sich um größere Säugetiere oder Vögel, die oft in der Nähe von Menschen leben und einen gewissen Bekanntheitsgrad haben. Wenn ein Tier solche Merkmale aufweise, aber selbst einer langen Suche entgehe, sei es vermutlich für immer verloren, erklärt der Biologe.
Der Beutelwolf oder Tasmanische Tiger (Thylacinus cynocephalus) ist ein gutes Beispiel: Seit das letzte in Gefangenschaft lebende Exemplar 1936 in einem Zoo starb, hat die wolfsähnliche Art in ganz Australien eine enorme kulturelle Bedeutung erlangt und jahrzehntelange Suchaktionen ausgelöst. Trotzdem bleibt sie verschollen. Der Tasmanische Tiger sei ein perfekter Kandidat für eine Wiederentdeckung, schreiben die Autoren der Studie – dass er trotzdem nicht mehr aufgetaucht sei, deute stark darauf hin, dass er tatsächlich ausgestorben ist. Das Gleiche gelte für mehr als 200 weitere verschollene Arten, nach denen ebenfalls gründlich gesucht worden sei, so Evans.
Andererseits könnten andere verschollene Tierarten, die nicht in das Profil für eine schnelle Wiederentdeckung passen, durchaus noch existieren. Das gilt besonders für Reptilien. Kleine, weniger charismatische Arten, die bei Menschen weniger beliebt und von daher aufwändiger zu finden sind, kämen womöglich weiterhin vor, sagt Evans. Die Zahlen untermauern seinen Optimismus: Immer wieder entdeckt man neue Arten kleiner Reptilien, und zwischen 2011 und 2020 wurden mehr als doppelt so viele verschollene Spezies davon aufgespürt wie im Jahrzehnt davor.
Menschen suchen manche Tiere lieber als andere
Der Tasmanische Tiger hat mittlerweile den Status eines Mythos erlangt: Unzählige Amateurjäger suchen ihn – und es gibt höchst fragwürdige Sichtungen. Reptilien wie das Fito-Blattchamäleon von Madagaskar hingegen würden vielleicht gefunden, wenn sich jemand die Mühe machen würde. Vermutlich wurde dieses Chamäleon auch deshalb noch nicht wiedergefunden, weil unklar ist, wo genau es sich aufhalten könnte: Denn die französischen Entdecker, die es in den 1970er Jahren erstmals beschrieben, benannten es mit »Fito« – nach einem lokal gebräuchlichen Ortsnamen, der ein sehr weites Gebiet beschreibt. Niemand weiß daher, wo sein genaues Verbreitungsgebiet liegt, und nur wenige haben bislang nach ihm gesucht.
Als Thomas Evans und sein Team all die Daten verglichen, fielen ihnen einige Muster auf: Säugetiere etwa, die auf Inseln als verschollen gelten, sind im Vergleich zu solchen Säugern in anderen Umgebungen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit für immer verschwunden. Das gilt beispielsweise für die Bramble-Cay-Melomys – eine Rattenart, die 2009 für verschollen und 2016 für ausgestorben erklärt wurde. Außerdem gibt es einen Zeitpunkt, der besonders günstig für das Wiederauffinden von Vögeln ist: durchschnittlich 66 Jahre nach ihrem Verschwinden. Das ist lange genug, um das Interesse an Suchexpeditionen zu wecken, aber nicht so lange, dass die Tiere als höchstwahrscheinlich ausgestorben gelten. Die Chancen stehen also schlecht für die mehr als ein Dutzend Vogelarten, die seit über 100 Jahren niemand mehr gesehen hat.
»Wir haben begrenzte Ressourcen, und wir müssen harte Entscheidungen darüber treffen, wo wir das Geld einsetzen«Christina Biggs, Naturschützerin
Evans hofft, dass solche Details Naturschützern wie Christina Biggs helfen. Sie erstellt seit 2017 für die in Texas ansässige Wohltätigkeitsorganisation Re:wild eine Liste der 25 »am dringendsten gesuchten« Arten. »Wir haben begrenzte Ressourcen, und wir müssen harte Entscheidungen darüber treffen, wo wir das Geld einsetzen«, sagt Biggs, eine der 26 Mitautoren und Mitautorinnen der aktuellen Studie. »Wir wollen dabei helfen, dass möglichst wenige Arten aussterben. Evans’ Forschung hilft uns dabei.« Re:wild aktualisiert seine Suchlisten für 2024 jetzt anhand der Studienergebnisse.
Aber ist das Auffinden einer verschollenen Art überhaupt gut für diese Tiere? Nach einer Wiederentdeckung kann es Monate dauern, bis ein Gebiet vor Wilderern oder Touristen geschützt ist. Die Forscher, die den Attenborough-Langschnabeligel entdeckten, haben noch immer nicht verraten, wo genau sie ihn gefunden haben. »Wenn man eine solche Entdeckung veröffentlicht, dann macht man die Tierart zur Zielscheibe für Jäger«, sagt der Biologe James Kempton, der die Expedition auf der Suche nach dem Langschnabeligel geleitet hat. Kempton ist nicht an der Katalogisierungsstudie beteiligt. Die Skepsis kommt nicht von ungefähr, wie Gison Morib unterstreicht: In einem Dialekt der lokalen Sprache Tabla enthalte der Name des Langschnabeligels, Amokalo, ein Wort für »fett«, weil das Tier so lecker schmecke.
Sichtungen helfen auch anderen Arten
Andererseits zögen Wiederentdeckungen oft konkrete Maßnahmen nach sich, sagt Biggs. »Sobald Tierarten wiederentdeckt werden, werden sie in eine Pipeline aufgenommen, um die Ausweisung von Schutzgebieten oder Meeresschutzgebieten zu ermöglichen«, erzählt sie. »Alles, was wir tun, kann also möglicherweise eine ganze Reihe anderer Arten in demselben Lebensraum retten. Für mich ist das mit sehr viel Hoffnung verbunden.« Als beispielsweise 2015 im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, nördlich von Rio de Janeiro, zum ersten Mal seit 75 Jahren wieder der Ruf des Blauaugentäubchens (Columbina cyanopis) zu hören war, wurde daraufhin ein 89 000 Hektar großes Schutzgebiet eingerichtet. Laut Thomas Evans kann man bei einigen der schwer zu findenden Arten anhand seiner Studie einschätzen, ob ein Lebewesen mit hoher Wahrscheinlichkeit noch existiert – und dann weite Schutzgebiete um sein Verbreitungsgebiet herum einrichten, statt möglicherweise erfolglose Expeditionen loszuschicken.
»Jede einzelne Art ist wichtig. Sie verhält sich in einem Ökosystem und erfüllt darin eine Aufgabe, die dann die Grundlage für alles Leben auf der Erde bildet«Christina Biggs, Naturschützerin
Mit jeder aussterbenden Art verlieren die Menschen auch ein Stück Kultur. Auf der anderen Seite der Zyklopenberge zum Beispiel, in der Nähe von Moribs Heimatstadt Ilu, nutzte die Yongsu-Sapari-Gemeinschaft den Langschnabeligel als »Friedenswerkzeug«, um Streitigkeiten zu schlichten. »Wenn sich Brüder oder Freunde stritten, mussten sie einen Langschnabeligel finden«, sagt Morib – eine Lösung, die im Lauf der Zeit immer schwieriger wurde.
Von der Hawaiikrähe (Corvus hawaiiensis), die in freier Wildbahn ausgestorben ist, hieß es, sie bringe verschollene Seelen zu ihrer Ruhestätte. Außerhalb der Gefangenschaft hört man ihren Ruf nur noch, wenn indigene Priester während traditioneller Gebete einen krähenähnlichen Gesang wiederholen. »Alles ist miteinander verbunden«, sagt Biggs. »Jede einzelne Art ist wichtig. Sie verhält sich in einem Ökosystem und erfüllt darin eine Aufgabe, die dann die Grundlage für alles Leben auf der Erde bildet.«
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