Ein wilder Ritt durch die moderne Physik
Vielleicht kennen Sie dieses Rätsel: Von einem Schachbrett werden die Felder A1 und H8 entfernt, zwei Eckfelder, die sich diagonal gegenüberliegen. Kann man danach das verbleibende Schachfeld vollständig mit Dominosteinen belegen, die immer zwei benachbarte Felder abdecken? Die Antwort ist Nein, denn auf dem ursprünglichen Spielfeld befanden sich 32 weiße und 32 schwarze Felder; auf dem beschnittenen sind es aber nur noch 30 weiße. Da ein Dominostein immer ein weißes und ein schwarzes Feld abdeckt, bleiben nach 30 gelegten Steinen zwei schwarze Felder übrig, die man eben niemals mit einem Dominostein erreichen kann.
Dieses Rätsel findet sich auch in Jugendbüchern zur Mathematik. Aber der Physiker Cumrun Vafa nutzt es, um Erhaltungssätze in seinem Buch zu erklären: Das Legen eines Dominosteins erhält die Differenz zwischen schwarzen und weißen Feldern. Am Anfang ist sie 32 – 30 = 2, und am Ende muss sie das auch noch sein. Erhaltungssätze sind also sehr nützlich: Man muss nicht alle Varianten ausprobieren, sondern kann aus der Vogelperspektive viel einfacher sehen, dass die Antwort »Nein« lauten muss.
Mathematische Rätsel für physikalische Intuition
Physik durch Rätsel zu erklären ist eine wirklich schöne Idee, die Vafa in einem Seminar an der Harvard University ausprobiert hat und nun als Buch präsentiert. Der Autor ist Stringtheoretiker, und dementsprechend schielt seine Reise in Rätseln immer auf die Grundlagen der Teilchenphysik. Die ersten drei Kapitel handeln von Symmetrien und Erhaltungssätzen, von Symmetriebrechung und von mathematischen Rätseln. Ein Beispiel für Letzteres ist dieses hier: Wenn man um die Erde ein Band eng anlegt und dann noch einen Meter einfügt – wie hoch könnte man das unelastische Band an einer Stelle hochziehen? Die Antwort ist frappierend: 121 Meter, höher als der Turm des Big Ben in London. Das Ergebnis ist zwar erstaunlich, aber eigentlich ist es nur eine Rechenaufgabe, die sich mit Gymnasialmathematik lösen lässt.
Die folgenden vier Kapitel drehen sich um physikalische Intuition, um kontraintuitive Physik, um das starke Werkzeug der Dimensionsanalyse und die Unnatürlichkeit großer Zahlen. Dimensionsanalyse ist eine Methode, ein Ergebnis abzuschätzen, indem man die Einheiten des Resultats aus den Eingangsgrößen konstruiert – und so die grundsätzlichen Abhängigkeiten oftmals erraten kann. Eine explizite, häufig schwierige Rechnung liefert in der Regel genau diese Abhängigkeiten, verziert mit einem kleinen numerischen Faktor wie ½ oder der Kreiszahl π. Dass dabei große Zahlen auftreten, ist ungewöhnlich. Umso rätselhafter erscheint es da, dass die Grundkräfte der Natur sich um so viele Größenordnungen unterscheiden – die elektrische Kraft zwischen zwei Protonen ist etwa 1040-mal größer als die Gravitation. Dieses ungelöste Rätsel der modernen Physik könnte eventuell eine Lösung in der Stringtheorie finden, so der Autor.
Die letzten beiden Kapitel behandeln das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft sowie das Prinzip der Dualität, bevor Vafa eine sehr lesenswerte, gerade einmal zehnseitige Zusammenfassung des Buchs gibt.
Insgesamt hat der Autor zahlreiche Knobeleien zusammengetragen und im Text verteilt. Manche sind bekannt, andere sind sehr schwer, da sie entweder Vorwissen aus dem Physikstudium oder ziemlich gute Mathematikkenntnisse voraussetzen. Die Einführung der mathematischen Konzepte ist dabei leider inkonsequent: Bereits auf Seite 30 tauchen Differenzialoperatoren auf; auf Seite 59 werden dann die viel leichter zu verstehenden komplexen Zahlen erläutert. Dadurch ist das Buch trotz des harmlos anmutenden Titels doch sehr anspruchsvoll.
Wie viel Physik kann man also durch solche Rätsel verstehen? Das hängt von der Vorbildung des Lesers ab. Rundherum empfehlen kann ich es Studierenden der Physik, die vor den Master- oder Doktorprüfungen stehen und noch mal einen kompakten Überblick über große Bereiche der Physik erhalten möchten. Interessierte Laien, die Mathematik nicht scheuen, werden es auch gerne lesen. Als eine Einführung in die Physik taugt es dagegen nicht.
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