1000 Jahre in einem Band
27 mal 35 Zentimeter groß, fast zweieinhalb Kilogramm schwer und üppig mit großformatigen Farbbildern illustriert: So widmet sich dieses Buch der 1000-jährigen Geschichte des Straßburger Münsters. Nicht nur haptisch, auch inhaltlich ist es ein gewichtiges Werk.
Schon die Entstehungsgeschichte des Bands beeindruckt. Die Vorarbeiten gehen bis auf 1998 zurück, als der Architekt Stéphane Potier damit begann, die mehr als 100 000 Bauteile des Straßburger Münsters digital nachzubilden und damit 3-D-Modelle der verschiedenen Bauphasen zu erstellen – beginnend mit dem Jahr 1015, als der Grundstein zum romanisch-ottonischen Vorgängerbau gelegt wurde. Weiterhin haben an dem Werk die Kunsthistorikerinnen Sabine Bengel und Marie-José Nohlen mitgewirkt sowie Clément Kelhetter, mehr als vier Jahrzehnte lang Bildhauer und Restaurator am Münster, und der Journalist Philippe Wendling. Bis auf den Letzten arbeiten alle für die Stiftung Fondation de l'Oeuvre Notre-Dame, die sich ausschließlich dem Erhalt des Münsters widmet und das Buchprojekt initiiert hat.
Von Holzkirche zu Kathedrale
Dem Team ist eine beeindruckende Zusammenstellung nahezu aller Aspekte gelungen, die das Gotteshaus betreffen. Auch wenn die Baugeschichte mit ihren technischen Aspekten im Fokus des Buchs steht, ist diese stets eingebettet in den historischen Kontext und das soziale Umfeld. So kommen wirtschaftliche, finanzielle und praktisch-organisatorische Aspekte zur Sprache, etwa die Abläufe auf den jeweiligen Großbaustellen, und natürlich auch die religiösen und politischen Hintergründe. Man denke nur an die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, die sich auf Bausubstanz und Innenausstattung des Münsters auswirkten, oder an den Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland um das wirtschaftlich bedeutende Elsass mit seinem Zentrum Straßburg.
Natürlich hat die Stadt, deren Anfänge auf den römischen Militärstützpunkt Argentorate und bis ins Jahr 15 v. Chr. zurückgehen, schon vor 1015 über ein Gotteshaus verfügt. Laut einer spätmittelalterlichen Chronik soll unter dem merowingischen König Chlodwig um 510 eine Holzkirche errichtet worden sein; gestempelte Ziegel mit dem Namen eines nicht näher datierbaren frühmittelalterlichen Bischofs Arbogast belegen einen später aufgemauerten Bau. Unmittelbar vor der Grundsteinlegung zur romanisch-ottonischen Basilika existierte ein karolingischer Bau, dessen Position unter den Fundamenten des heutigen Gotteshauses nicht mehr exakt zu ermitteln ist.
Dass trotzdem im Jahr 2015 das 1000-jährige Jubiläum des Münsters gefeiert wurde, ist insofern legitim, als die gotische Kathedrale, wie sie sich im Wesentlichen noch heute präsentiert, nahezu komplett auf den romanisch-ottonischen Fundamenten errichtet wurde. Demnach war schon die romanische Kirche ein dreischiffiges Langhaus mit großem Querhaus und monumentaler Westfassade, welches mit über 100 Meter Länge zu den größten Sakralbauten der damaligen Zeit gehörte. Dass es realisiert werden konnte, ist dem politischen Instinkt des damaligen Bischofs Werner aus dem Hause Habsburg zu verdanken, den Kaiser Otto III. im Jahr 1001 ins Bistum Straßburg einsetzte. Werners politisches Engagement führte zwar dazu, dass Straßburg 1002 erobert und das Münster in Brand gesteckt wurde, doch der dann zum König gekrönte Heinrich II. schenkte dem Bischof als Dank für seine Loyalität zwei Klöster. Deren Einkünfte ermöglichten den prunkvollen Wiederaufbau des Münsters.
Mit der Grundsteinlegung, ab der man sich auf historisch gesichertem Boden befindet, setzt im Buch die akribisch wiedergegebene Baugeschichte ein. Dankenswerterweise ist dieser Abschnitt in viele chronologisch sortierte, kurze Kapitel gegliedert. Denn hier werden vor allem die bautechnischen Fakten derart kompakt präsentiert, dass die visuelle Vorstellungskraft des Lesers an ihre Grenzen stieße, gäbe es nicht die ausgezeichneten Illustrationen und 3-D-Rekonstruktionen nebst Grundriss und isometrischem Aufriss. Allerdings wäre ein Glossar mit den wichtigsten architektonischen Fachbegriffen wünschenswert gewesen. Zu würdigen ist die Leistung der beiden Übersetzer, die den kompakten französischen Originaltext für die deutschsprachige Version nochmals einkürzen mussten.
Wer sich unvorbereitet mit der Faktenfülle überfordert fühlt, sollte nach der Einleitung den ersten Teil zunächst überspringen und gleich im zweiten weiterlesen. Auch dort und in den nachfolgenden Abschnitten sind die Informationen dicht gedrängt – etwa zum historischen Umfeld und den beteiligten Handwerkern, zu denen Baumeister, Steinmetze, Bildhauer, Schreiner und Schmiede, Glockengießer und Glaskünstler gehörten. Doch als Leser taucht man hier in die Welt des Mittelalters ein und fühlt sich anschließend den vermeintlich spröderen Baubeschreibungen besser gewachsen.
Auch wer die teils verblüffenden Details zum früheren Aussehen des Münsters nicht komplett liest, erfährt interessante Einzelheiten – etwa, dass die große Rosette an der Westfassade zu den konstruktionstechnisch einfachsten Bestandteilen des Gotteshauses zählt. Oder dass die Zwischengewölbe im Turm nach Vollendung nicht geschlossen werden konnten, da sonst der Steintransport nach oben mit dem Kirchturm als »Liftschacht« nicht funktioniert hätte.
Überhaupt zählt der Turm zu den interessantesten Aspekten des Münsters. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein war der fertig gestellte Nordturm mit 142 Metern das weltweit höchste Bauwerk, bis er durch die 1880 und 1890 vollendeten Kirchtürme von Köln und Ulm übertroffen wurde. Sein geplantes Gegenstück auf der Südseite ist hingegen nie zur Ausführung gelangt. Das Schlusswort des Buchs wirft deswegen die Frage auf, ob das Münster trotzdem als vollendet anzusehen ist.
Eine dermaßen detailreiche Auseinandersetzung mit einem Baudenkmal wird es sicher so schnell nicht mehr geben, auch wenn sie für viele andere Monumente wünschenswert wäre.
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