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Lexikon der Neurowissenschaft: multiple Sklerose

multiple Sklerose w [von spätlatein. multiplus = vielfach, griech. skleros = hart, steif], Encephalomyelitis disseminata, Entmarkungsencephalomyelitis, Polysklerose, Sclerosis cerebrospinalis disseminata, Abk. MS, E multiple sclerosis, chronische Erkrankung des Zentralnervensystems, die durch einen herdförmigen Zerfall der Myelinscheiden und perivaskuläre, entzündliche Infiltrate im Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet ist; auch werden nicht selten axonale Schädigungszeichen in frischen Läsionen gefunden (Histopathologie siehe Abb. 1 ). Die Erkrankung verläuft anfangs meist in Schüben (Schub) mit jeweils folgenden Rückbildungen der klinischen Symptomatik (sogenannte relapsierend-remittierende Form, Abk.RRMS), geht aber bei der Hälfte der Patienten nach 10 Jahren in einen sekundär fortschreitenden Verlauf mit Akkumulation von funktionellen Defiziten über. Eine primär langsam fortschreitende Verlaufsform ohne Schübe ist selten (ca. 10%). Abweichend hiervon gibt es auch akut schwer verlaufende Formen entzündlich demyelinisierender Erkrankungen (Demyelinisierung), wie die akute disseminierende Encephalomyelitis (ADEM), die Marburg-Variante oder die Dévic-Krankheit (Neuromyelitis optica). Frauen erkranken häufiger als Männer; die Erstmanifestation liegt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die multiple Sklerose ist mit einer Prävalenz von etwa 80-120 Erkrankten auf 100000 Einwohnern in Mitteleuropa eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen. – Die Symptome einer multiplen Sklerose sind vielseitig, je nach dem Ausfall des jeweils betroffenen Teils des Nervensystems, z.B. Doppelbilder, Zittern, Schwindelanfälle, Muskelschwäche, Inkontinenz, Sensibilitäts- und Sprachstörungen, psychische Veränderungen. Der empfindlichste Nachweis für die bei der multiplen Sklerose auftretenden Entzündungsherde (Plaques) ist die Kernspinresonanztomographie ( siehe Abb. 2 ). Mit Hilfe dieser Methode können bis zu 10 mal mehr Herde festgestellt werden, als sich klinisch manifeste Schübe nachweisen lassen. Die Diagnose einer MS wird bei zeitlich und örtlich getrennt aufgetretenen Symptomen nach kernspintomographischem Befund und Nachweis eines chronisch entzündlichen Liquorsyndroms in der Lumbalpunktion gestellt (Kriterien für die Diagnosesicherheit wurden von Schumacher und Poser definiert; Poser-Kriterien). Für die Einteilung des funktionellen Defizits wird heute allgemein die expanded disability status scale (Kurtzke-Skala; EDSS) verwendet. – Die Therapie eines akuten Schubs erfolgt mit hochdosiertem Cortison (intravenös) über einige Tage. Zur Schubprophylaxe und Progressionsverzögerung werden rekombinante Interferon-β-Präparate, Glatirameracetat (das synthetische Copolymer-1 mit Sequenzhomologie zum basischen Myelin-Protein MBP) oder Immunsuppressiva, wie Azathioprin oder Mitoxantron, eingesetzt. In der symptomatischen Behandlung spielen physikalische Maßnahmen und Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage eine wichtige Rolle. – Vieles spricht dafür, daß es sich bei der multiplen Sklerose primär um eine Autoimmunkrankheit handelt, bei der es zum Angriff des Immunsystems auf die Myelin-Schicht der zentralnervösen Axone kommt. Es wurden aber auch Autoimmunreaktionen gegen Antigene von Astrocyten oder Nervenzellen selbst gefunden. Eine genetische Komponente scheint beim Zustandekommen der Erkrankung eine wichtige Rolle zu spielen. Es konnte gezeigt werden, daß mit steigendem Verwandtschaftsgrad zu einem MS-Patienten die Erkrankungswahrscheinlichkeit zunimmt (Konkordanz von ca. 30% bei eineiigen Zwillingen). Mögliche "Kandidatengene" sind die Histokompatibilitäts-Antigene auf dem kurzen Arm des Chromosom 6 (so wurde z.B. der Haplotyp HLA-DR2 gehäuft bei MS-Patienten in Mittel- und Nordeuropa gefunden) sowie Regionen im T-Zell-Rezeptor-Gen oder in verschiedenen Immunmodulator-Genen. Unklar ist, welche Umwelteinflüsse den Ausbruch der Krankheit begünstigen. Vermutet werden unter anderem Infektionen als auslösende Faktoren. Es ist bekannt, daß im normalen T-Zell-Repertoire autoreaktive Zellen existieren. Ein Freisetzen körpereigener Antigene im Rahmen einer Infektion aus Geweben, in denen sie normalerweise vor dem Immunsystem versteckt sind, könnte diese autoreaktiven T-Lymphocyten aktivieren. In der Tat benutzen einige Pathogene die Ähnlichkeit mit körpereigenen Antigenen, um sich vor der Immunantwort zu schützen (sogenanntes molekulares Mimikry). Wenn dieser Mechanismus versagt, könnte es zu einem Angriff auf die kreuzreagierenden Antigene (z.B. das basische Myelin-Protein, MBP) kommen. MBP oder das Proteolipid-Protein (PLP) lösen zusammen mit einer Trägersubstanz nach Injektion in Empfängertiere (bestimmte Mäuse- und Rattenstämme) eine der multiplen Sklerose ähnliche Erkrankung, die experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE) aus. Superantigene, die eine Vielzahl von T-Zellen unabhängig von ihrer Spezifität aktivieren können, wären ebenfalls potente Stimulatoren und könnten zur Aktivierung autoreaktiver T-Zellen führen. Kürzlich konnte gezeigt werden, daß auch Autoantikörper gegen das Myelin-Oligodendrocyten-Glykoprotein (MOG) eine wichtige Rolle bei der Demyelinisierung spielen. Ob ein bestimmtes Myelinprotein nun das auslösende Antigen ist oder nur als Folge der Krankheit vom Immunsystem erkannt wird, ist allerdings unklar. Die Untersuchungen zum Repertoire der T-Zellen bei MS-Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden ergaben keine qualitativ bedeutsamen Veränderungen, was die genaue Feststellung der Krankheitsursache erschwert. – Neue therapeutische Ansätze ergeben sich aus Ergebnissen bei der EAE; wenn den Tieren zum Zeitpunkt der Immunisierung das Autoantigen gleichzeitig intravenös oder über das Futter (oral) verabreicht wurde, kam es zu einer verminderten Krankheitsaktivität und geringeren entzündlichen Infiltraten. Dieser Mechanismus wird Toleranzinduktion genannt und bietet Ansätze für innovative immunmodulatorische MS-Therapien. Ebenso scheint die Beeinflussung von Cytokinen, die für die Vermittlung der Entzündungsreaktion von Bedeutung sind, therapeutisch aussichtsreich. Hier wird u.a. der Effekt der rekombinanten Interferon-β-Präparate in der Behandlung von MS-Patienten gesehen. In der Beurteilung innovativer Behandlungsansätze der MS ist zu bedenken, daß eine Übertragung der tierexperimentellen Ergebnisse nur beschränkt möglich ist, da es sich bei der EAE um eine induzierte, im wesentlichen akut verlaufende Erkrankung handelt, während bei der chronisch verlaufenden MS akute entzündliche und demyelinisierende Läsionen parallel zu Reorganisationsvorgängen im zentralen Nervensystem ablaufen.

P.R.

Ursachenforschung: Offenbar gibt es mehrere verschiedene Ursachen für akute Anfälle von multipler Sklerose (MS). In Biopsaten von Patienten, die frische Läsionen nach akuten MS-Schüben aufwiesen, konnten vier unterschiedliche Demyelinisierungsmuster gefunden werden, die auf verschiedene Ursachen hindeuten: Zwei verschieden Formen von Autoimmunkrankheiten, Viren, Bakterien (Chlamydien) sowie Toxine. Die unterschiedlichen Ursachen könnten unter Umständen auch jeweils verschiedene Therapieverfahren für MS-Patienten nötig machen.



multiple Sklerose

Abb. 1: histopathologische Befunde (MS-Plaques)
1 Entzündung:entzündliches perivaskuläres Infiltrat, bestehend aus Lymphocyten und Makrophagen (Hämatoxylin/Eosin-Färbung)
2 Entmarkung:entmarkter Plaque mit scharfer Grenze (Pfeile) zur intakten weißen Substanz (immunhistochemische Färbung von basischem Myelinprotein)
3 Gliose:reaktive Gliose mit zahlreichen geschwollenen, sogenannten gemistocytären Astrocyten (Pfeile; Hämatoxylin/Eosin-Färbung)
4 Axonschädigung:Versilberungsfärbung der Nervenfortsätze (Bielschowsky-Färbung)



multiple Sklerose

Abb. 2:
Entzündungsherde in T2-gewichteter (1) und in korrespondierender T1-gewichteter Kernspinresonanztomographie mit Gadoliniumanreicherung (2). 3 Entzündungsherd im Halsmark (T2-gewichtet); klinisch Querschnittsmyelitis.

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