Warkus' Welt: Sind Arbeit und Faulheit gar keine Gegensätze?

Wie soll man mit Menschen umgehen, die nicht arbeiten wollen? Diese Frage bewegt die bundesdeutsche Gesellschaft schon länger, als ich auf der Welt bin. Allein zwischen 1975 und 2001 gab es mindestens vier »Faulheitsdebatten«, und rein aus dem Kopf erinnere ich mich an drei weitere (2005, 2012, 2018). Aktuell ist das Thema wieder einmal auf dem Tisch, da die neue schwarz-rote Bundesregierung sich daran macht, die Anreize und Zwangsmaßnahmen zu überarbeiten, die dafür sorgen sollen, dass Transferleistungen nicht von Arbeitsunwilligen bezogen werden.
Dass über Arbeitsunwillige so oft und viel in dieser Weise geredet wird, impliziert zweierlei: Es gibt viele von ihnen und es klar ist, dass Druck auf sie ausgeübt werden muss. Wie viele Menschen es nun in Deutschland gibt, die nicht arbeiten wollen, ist kein philosophisches Thema, sondern eines für die empirische Sozialforschung. Ebenso auch die Frage, wo man sie findet – es soll ja durchaus Menschen geben, die nicht von Transferleistungen leben und dennoch nicht gern arbeiten. Aber über die Bewertung von Arbeitsunwillen (um nicht von Faulheit zu sprechen) kann man durchaus philosophisch diskutieren. Wie kommt es überhaupt, dass Arbeit so hoch gehängt wird?
In Deutschland ist fast die Hälfte der Bevölkerung in der freien Wirtschaft erwerbstätig, verdient sich also den Lebensunterhalt durch die Erzeugung von Wertschöpfung für andere; in der Regel sind das die Eigentümer von Unternehmen. Man könnte daher vermuten, dass das Hochstilisieren von Fleiß – oder zumindest Arbeitswillen – zur Tugend einfach dafür sorgen soll, dass die Arbeitnehmer nicht aufmüpfig werden. Dass Arbeit so hoch geschätzt wird, wäre dann lediglich Ideologie.
»Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen«
Interessanterweise findet sich diese Stilisierung, und zwar in einer ihrer populärsten und berüchtigtsten Formulierungen, jedoch in einem völlig anderen wirtschaftlichen Zusammenhang. Der biblische Satz »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« (2. Brief des Paulus an die Thessalonicher, Kapitel 3, Vers 10) kommt aus einer Zeit, in der die Urchristen noch großen Wert auf Besitzlosigkeit und Gütergemeinschaft legten und ihnen Lohnarbeit für Unternehmer nicht hätte gleichgültiger sein können. In der radikalisierten Form »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« findet der Satz dann sogar Eingang in die Verfassung der Sowjetunion von 1936 – immerhin ein Land, das sich die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung auf die Fahne geschrieben hatte und Sympathien für das Neue Testament unverdächtig war. Ein hoher Stellenwert von Arbeit im System der Tugenden findet sich auch im antiken China, also fernab von Kapitalismus, Sozialismus und Christentum.
Liegt es vielleicht daran, dass wir auf Arbeit schlicht angewiesen sind? Irgendjemand muss dafür sorgen, dass Brot auf unserem Tisch und Wasser aus unserem Hahn kommt. Das erklärt aber nicht die rundum positive Bewertung von Arbeit. Es würde ja reichen, sie als notwendiges Übel zu sehen. Aber Fleiß und Disziplin erfreuen sich enormer Beliebtheit, sogar in Bereichen, wo es gar nicht mehr um die Lebenserhaltung geht. Allein zirka 13 Millionen Menschen in Deutschland gehen mehrmals pro Woche laufen; die Popularität von Fitness-Influencerinnen und -Influencern lässt vermuten, dass auch die, die es nicht schaffen, jeden Tag trainieren zu gehen und sich an ausgefeilte Wochenpläne zu halten, es doch zumindest gern täten. Und Sport ist nicht die einzige Freizeitbeschäftigung, die harte Arbeit darstellt – das weiß zum Beispiel, wer sich schon einmal mit jemandem unterhalten hat, der intensiv ein Onlinerollenspiel »spielt«.
Es gibt nun verschiedenste Konzepte dazu, was den Wert von Arbeit für das tätige Individuum jenseits der Lebenserhaltung oder des Eintauschens gegen Geld, Waren und Dienstleistungen ausmacht. Beim Arbeiten wirken wir mit anderen Menschen sozial zusammen; wir geben unserem Leben einen mehr oder minder ausgeprägten Sinn – wobei hier die Chirurgin oder der Bäckermeister einen gewissen Vorsprung gegenüber der Personalsachbearbeiterin oder dem Werbetechniker haben dürften. Wir treten mit unserer Umgebung, klassisch marxistisch gesagt, in einen »Stoffwechsel«, verwandeln sie uns an, wirken mit an der »Bewußtwerdung der Materie«, die »identisch mit ihrer Menschwerdung« ist, wie es der DDR-Philosoph Hans-Joachim Lieber 1961 formuliert hat. Eher konservativ hinterlegt ist die Vorstellung, dass in der (»ehrlichen«) Arbeit eine Quelle von Würde und Selbstachtung steckt. Insgesamt scheint das Argument, Arbeit sei durchweg nichts als Ausbeutung und Geknechtetsein, schwer zu halten.
Mir ganz persönlich fällt dabei seit vielen Jahren auf, dass die Personen in meinem Umfeld, die besonders produktiv und fleißig sind – gerade im Wissenschafts- und Kulturbetrieb –, großen Wert auf Faulheit und Nichtstun legen und oft damit kokettieren, dass sie eigentlich sehr ungern arbeiten. Umgekehrt ist seit Langem bekannt, dass Menschen, die eigentlich nichts zu tun haben, dazu tendieren, kleinste Tätigkeiten auf viel Zeit auszudehnen. Dies ist der Inhalt des so genannten parkinsonschen Gesetzes, benannt nach dem britischen Beamten Cyril Northcote Parkinson (1909–1993); im Alltag äußert es sich unter anderem in dem bekannten Phänomen, dass Rentner immer beschäftigt sind. Möglicherweise sind Arbeit und Faulheit beziehungsweise Nichtstun also gar keine Gegensätze, sondern gehen in komplexer Weise miteinander einher. Das würde dann auch heißen, dass eine Gesellschaft, die möchte, dass mehr gearbeitet wird (aus welchem Grund auch immer), Besseres tun könnte, als immerzu die Faulheit zu bekämpfen.
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