Warkus’ Welt: Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Jede Kontrolle braucht jemanden, der kontrolliert, ob sie auch richtig kontrolliert. Zu Anfang des 2. Jahrhunderts formulierte der römische Satiriker Juvenal (zirka 55–128) die berühmte Frage: Sed quis custodiet ipsos custodes? Wer bewacht die Wächter? Im ursprünglichen Zusammenhang geht es dabei traditionell-sexistisch darum, dass es nichts bringe, eine Ehefrau durch männliche Wächter in ihrem Haus einsperren zu lassen, da sie ja auch diese verführen könne. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird der Satz aber als politische Sentenz verstanden. Oft wird er Platon untergeschoben, der in seinen beiden Entwürfen idealer Staaten in seinen Dialogen »Politeia« und »Nomoi« verschiedene Wächtergremien mit umfassenden Kompetenzen vorsieht.
In modernen Staaten ist eine bedeutende Facette dieser Frage nach dem »Bewachen der Wächter« die Besetzung oberster Gerichte. Bei einer Gerichtsverhandlung habe ich einmal einen Aufkleber am Laptop eines Verteidigers mit der Aufschrift »KEEP CALM AND GO TO KARLSRUHE« gesehen. In diesem Satz drückt sich das Prinzip aus: Am Ende gibt es immer eine Instanz, die entscheiden wird. Dieser letzte Stichentscheid muss in einem Rechtsstaat, in dem alles staatliche Handeln im Rahmen abstrakter rechtlicher Normen und niemals bloß willkürlich geschehen soll, notwendigerweise bei einem Gericht liegen. Denn läge die letzte Entscheidung bei einem Exekutivorgan oder einem Parlament, könnte dieses durchaus auch rechtswidrig entscheiden, was durch eine gerichtliche Kontrolle korrigiert werden müsste.
Also: Letzte Entscheidungen liegen bei einem Gericht, anders geht es nicht. Ein Gericht kann nun nicht irgendetwas entscheiden, sondern muss sich, eben weil es ein Gericht ist, an Recht halten. Das Recht wiederum hat die Eigentümlichkeit, nicht immer eindeutig und unumstritten zu sein, sonst bräuchte es keine höhere Gerichtsbarkeit und keine Rechtswissenschaft. Auch bringen geschichtliche Ereignisse und die Fortentwicklung der Menschheit ständig neue Phänomene hervor, mit denen sich die Jurisprudenz auseinandersetzen muss – Eisenbahnen, Chemieunfälle, Reproduktionsmedizin. Wo in solchen Fällen Gesetz und juristische Literatur allein nicht mehr weiterhelfen, ziehen hohe Gerichte übrigens immer wieder die Philosophie heran, was dieser wiederum ihre fortgesetzte Relevanz in modernen Rechtsstaaten verleiht.
Ein Gutteil des Problems, wer die Wächter bewacht, übersetzt sich im deutschen politischen System in die Frage, wer die Verfassungsrichterinnen und -richter wählt. Ohnehin schon von großer Tragweite, ist diese Frage zudem auch geradezu emotional aufgeladen: Seit Jahrzehnten hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung (75 bis 80 Prozent) großes oder sehr großes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Es hat auch als vielleicht einzige deutsche politische Institution eine völlig akzeptierte Ikonografie entwickelt. Während Exekutive und Parlamente mit knittrigen Anzügen, Großen Zapfenstreichen, zu viel oder zu wenig Nationalsymbolik, zu wuchtigen oder zu fantasielosen Gebäuden, Bockwurst-Catering, Filterkaffee und so weiter viel Anlass zum Lästern bieten, ruht das Verfassungsgericht mit seinen roten Fantasieroben in seinem nüchternen, vollverglasten Sechzigerjahre-Bau irgendwie stilsicher in sich. Wenn es so etwas wie eine moderne bundesdeutsche Identität überhaupt gibt, dann gehört das Gericht zu ihrem Kern.
Ein einfaches Verfahren: Geteiltes Vorschlagsrecht
Das Verfahren, das sich im Lauf der Jahrzehnte herauskristallisiert hat, um eben diese überragend wichtige Institution immer wieder personell nachzubesetzen, ist eigentlich recht simpel. Die Hälfte der Richter wird vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat gewählt, jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Die überparteilichen Mehrheiten dafür werden durch eine informelle, aber traditionsreiche Absprache zwischen Union und SPD, neuerdings auch Grünen und FDP, gesichert: Die Parteien teilen sich das Vorschlagsrecht auf und stimmen dann jeweils auch für die Kandidaten der »Gegenseite«.
Der große Soziologe (und letztlich auch Philosoph) Niklas Luhmann (1927–1998) hat mit dem Titel seines rechtstheoretischen Werks von 1969 das Schlagwort von der »Legitimation durch Verfahren« geprägt. Gerichtsentscheidungen haben ihre Geltung dadurch, dass sie nach Verfahren einer bestimmten Art ohne allzu große Fehler ablaufen; und genauso sind Gerichte selbst dadurch legitimiert, dass sie nach bestimmten Verfahren ohne allzu große Fehler besetzt werden. Es ist dabei vielleicht gar nicht so wichtig, wie das konkrete Verfahren aussieht und welche Ergebnisse es im Einzelfall liefert. In Italien verwaltet sich die Justiz weitgehend selbst – ein oberster Justizrat, der sich fast vollständig aus den eigenen Reihen von Richtern und Staatsanwälten rekrutiert, entscheidet alle Personalangelegenheiten. In Deutschland sind wir mit der Besetzung von Gerichten im parlamentarischen Konsens bislang aber offensichtlich auch gut gefahren.
Das Bedenkliche an dem aktuellen Konflikt um die abgesetzte Richterwahl am 11. Juli 2025 ist, wie ich finde: Offenbar genügt es heutzutage nicht mehr, dass ein Verfahren auf den Ausgleich zwischen politischen Parteien bedacht ist, um es zu einer Legitimationsquelle zu machen. Zumindest scheinen Politik und Öffentlichkeit diesen Ansatz nicht mehr uneingeschränkt mitzutragen. Den einen gilt als Makel, dass überhaupt politisch-medial um die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf (und inzwischen auch von Ann-Katrin Kaufhold) gerungen wird, für die anderen ist der traditionelle Vorschlags- und Wahlmodus plötzlich Kungelei. Dass in einem Staat, dessen Verfassung den politischen Parteien ganz förmlich eine große Rolle einräumt, die politischen Parteien eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung gesehen werden, ist kein schöner Zustand.
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