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Warkus' Welt: Das Chaos lauert überall

Vom Tohuwabohu in der biblischen Genesis bis zur abgedroschenen Leerformel: Das »Chaos« hat eine erstaunliche Reise hinter sich, berichtet unser Kolumnist.
Eine kunstvolle Holzintarsie zeigt ein zentrales Auge, umgeben von strahlenförmigen Linien, die an Sonnenstrahlen erinnern. Zwei ausgestreckte Arme und Beine ragen aus dem Auge heraus. Die Buchstaben "MA", "GNVM", "SO", und "CHA" sind in den Ecken des Bildes angeordnet. Das Bild hat einen goldenen Ton auf einem dunklen Hintergrund und vermittelt ein mystisches, symbolisches Thema.
Magnum Chaos – Holzintarsie von Giovan Francesco Capoferri in der Basilika Santa Maria Maggiore in Bergamo, nach einem Entwurf von Lorenzo Lotto.
Haben Katzen das bessere Leben? Gibt es eine Pflicht, sich zu empören? Hat alles, was existiert, etwas gemeinsam? Matthias Warkus blickt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« mit den Augen des Philosophen auf Alltägliches und Außergewöhnliches.

Wörter nutzen sich durch inflationäre Benutzung ab, wozu es das (selbst inzwischen reichlich abgenutzte) Wort von der »Worthülse« gibt. Eine der meistbemängelten Worthülsen in den deutschsprachigen Medien ist sicherlich »Chaos«. Schon vor weit über zehn Jahren amüsierte man sich gerne darüber, dass der Ausdruck »Schneechaos« sich in der Presse fest etabliert hatte und bei jedem irgendwie verkehrsbehindernden Schneefall hervorgeholt wurde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass im Winter 2022 einmal über irgendein »Chaos« berichtet wurde, das sich anscheinend vor allem darin niederschlug, dass Leute auf Flughäfen und Bahnhöfen ein, zwei Stunden in ordentlichen Schlangen warten mussten.

Doch warum finden wir es eigentlich so schräg bis ärgerlich, wenn mit dem Wort »Chaos« inflationär um sich geworfen wird? Und was verdient es wirklich, »chaotisch« genannt zu werden?

Klassischerweise – und zwar wirklich »klassisch« im Sinne eines Bezugs auf die griechische und römische Antike – nennt man »Chaos« den undifferenzierten Zustand zu Anfang der Welt. In diesem Sinne taucht das Wort zum Beispiel im 8. Jahrhundert v. Chr. bei dem archaischen griechischen Dichter Hesiod auf. Ovid schreibt Jahrhunderte später (in der Übersetzung von Michael Albrecht):

Ehe es Meer, Land und den allumschließenden Himmel gab, hatte die ganze Natur ringsum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche Samen von Dingen, ohne rechten Zusammenhang.

Drunter und Drüber am Anfang der Schöpfung

Das Chaos ist unter anderem dadurch bestimmt, dass die Trennung von Land, Meer und Himmel, mithin der klassischen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, noch nicht vollzogen ist. Vergleichbar ist der biblische Ausdruck vom »Tohuwabohu« aus der Schöpfungsgeschichte der Genesis: Alles geht noch kreuz und quer durcheinander. In Zeiten, als das Ungeordnete und nicht völlig Durchgestaltete in der Kunst verpönt war, war es eine große Herausforderung, dies darstellen zu wollen. Der französische Barockkomponist Jean-Féry Rebel hat 1737 versucht, das Chaos musikalisch zu charakterisieren, indem er das Orchester im großen Stil dissonante Klangwolken spielen lässt, womit er seiner Zeit Jahrhunderte voraus war.

Das oben Erwähnte, das man gemeinhin »Schneechaos« oder »Flughafenchaos« nennt, hat mit solcher totalen Unbestimmtheit und Ungeordnetheit sichtlich wenig zu tun. Daher vermutlich auch der verbreitete Unmut über diese Vokabel.

Bekanntlich werden unter dem Wort »Chaos« zudem inzwischen auch bestimmte mathematische und naturwissenschaftliche Phänomene gruppiert, die beispielsweise etwas mit der sogenannten Chaostheorie zu tun haben. Nicht zuletzt kommt unser Wort »Gas« auf dem Weg über das Niederländische etymologisch auch von »Chaos«. Bei beidem spielen jedoch lediglich Aspekte von Unordnung und Durcheinander eine Rolle, aber eben nicht das gänzliche Chaos.

Woher kam das Chaos, wenn es vor dem Schöpfer da war?

Was haben wir nun philosophisch davon, dass wir über dieses völlige, »biblische« oder »primordiale« Chaos nachdenken? Zunächst einmal kann, dass wir überhaupt seine Möglichkeit in Erwägung ziehen, schon eine Form gewissermaßen rebellischen Denkens sein. Das Christentum lehrt seit über 1800 Jahren, dass das Chaos nicht schon vor der göttlichen Schöpfung existierte, sondern Gott die Welt gänzlich aus dem Nichts geschaffen habe. Explizit steht das im Alten Testament so aber nicht, weswegen die Frage offenbleibt, ob es vor der Schöpfung nicht schon etwas gab. Wenn wir akzeptieren, dass das Chaos bereits vor Gott war, müssen wir uns fragen, wo es herkam.

Zugleich gibt es eine große Tradition, das Chaos selbst mit dem Schöpferischen zu identifizieren: Könnte das Chaos denn die Welt und alles, was ist, nicht aus sich selbst hervorgebracht haben? Ist bei dem Durcheinander, aus dem alles geworden ist, nicht genauso viel oder sogar mehr Macht als bei dem Schöpfer, der ihm Befehle erteilt hat? In verschiedenen, bis in die Antike zurückgehenden Geheimlehren – so etwa in der Alchemie – wird das Chaos identifiziert mit besonderen Arten von schöpferkräftiger Materie. Als Metapher finden wir dies dann noch in einem der berühmtesten Zitate von Friedrich Nietzsche wieder: »[M]an muss noch Chaos in sich haben, / um einen tanzenden Stern gebären zu können.«

Das Chaos als Denkfigur steht also für die Möglichkeit, dass gänzlich Neues geschieht, dass aber auch Existentes gänzlich zerstört wird. Da ist dann auch die »schöpferische Zerstörung« nicht weit, wie Joseph Schumpeter (1883–1950) sie genannt hat – eine der folgenschwersten Ideen der Wirtschaftswissenschaften. Vorstellungen von »Disruption« leiten heute die mächtigsten Männer der Welt, die wiederum gar nicht so selten die Tendenz haben, die Geschichte bewusst oder unwissentlich nach religiösen Mustern zu deuten. In unserem Denken über Chaos, über das Zusammengehen von Destruktion und Produktion, schwingt das Erbe von Jahrtausenden mit.

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