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Warkus' Welt: Wozu wir das Hässliche brauchen

Hässlichkeit ist unverzichtbar für die Wahrnehmung von Schönheit. Und hässliche Kunst kann sogar moralisch notwendig sein, meint unser Philosophie-Kolumnist.
Ein Hund mit einem einzigartigen Aussehen, der seine Zunge herausstreckt, steht im Vordergrund eines sonnigen Tages. Weit im Hintergrund ist noch eine Person in einem roten T-Shirt und einer blauen Mütze zu sehen, die sich mit etwas beschäftigt. Der Himmel ist klar und blau.
»Archie« gewann 2006 den Wettbewerb »Hässlichster Hund der Welt«. Das brachte Frauchen ein Preisgeld von 1000 US-Dollar ein.
Haben Katzen das bessere Leben? Gibt es eine Pflicht, sich zu empören? Hat alles, was existiert, etwas gemeinsam? Matthias Warkus blickt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« mit den Augen des Philosophen auf Alltägliches und Außergewöhnliches.

»Dich will ich loben: Häßliches, / du hast so was Verläßliches«, schrieb der große Humorist und Lyriker Robert Gernhardt am 6. Dezember 1984 in seinem (vielleicht unfreiwillig) bekannten Gedicht »Nachdem er durch Metzingen gegangen war«. Natürlich war sein Lob des Hässlichen tief ironisch gemeint und wurde auch durchweg so verstanden – was unter anderem dazu führte, dass der Autor viel verärgerte Post von Metzinger Honoratioren, aber auch einfachen Bürgern bekam.

Ich war noch nie in Metzingen und will mich daher auch nicht mit dem Urteil des Dichters über das geschäftige Mittelzentrum in der Neckar-Alb-Region befassen, sondern vielmehr mit der Frage, ob man Gernhardts Vers nicht beim Wort nehmen könnte: Gibt es Gründe, das Hässliche wertzuschätzen, es, wie Gernhardt schreibt, zu loben?

Ein Lob auf die Hässlichkeit

Um darüber nachzudenken, wäre erst einmal zu klären, was überhaupt hässlich ist. Das ist – genau wie bei der Schönheit – bekanntlich nicht ganz einfach. An abstrakten Skulpturen, moderner Architektur, Kriegswaffen, aber auch bestimmten Tieren – ich denke da an Kraken, Anglerfische, Nacktmulle, Chihuahuas – scheiden sich oft die Geister. Sogar manch ein Hund kann abstoßend hässlich sein.

Ein Buch, das ich gerade in der Lehre behandle, »Functional Beauty« der Philosophen Glenn Parsons und Allen Carlson, löst das Problem einfach durch Definition: indem es Schönheit und ästhetische Wertschätzung gleichsetzt. Nach dieser Auffassung können wir nichts Hässliches ästhetisch wertschätzen, weil es sonst ja gar nicht hässlich wäre.

Wollen wir das Hässliche wertschätzen, dann können wir das auf eine Weise, die mit Ästhetik nichts zu tun hat. Stellen Sie sich zum Beispiel ein völlig verbautes und zutiefst geschmacklos eingerichtetes Businesshotel vor, das aber perfekt gelegen ist, ein hervorragendes Frühstück und erstklassigen Service anbietet und obendrein erstaunlich gute Preise hat. Das kann es geben, doch irgendwie geht das am Punkt vorbei: Die Hässlichkeit wird hier zur verschmerzbaren Nebensache; dass man einen Gegenstand für eine Eigenschaft loben und dabei von einer anderen absehen kann, ist trivial. Uns beschäftigt aber vielmehr, ob man das Hässliche als Hässliches würdigen kann.

Ein Argument dafür ist, dass das Hässliche schon allein als Kontrast zum Schönen gebraucht wird. Wenn alles schön wäre, wäre nichts schön. (Auch Gernhardts Gedicht enthält einen ähnlichen Gedanken.) Damit ist aber nichts dazu gesagt, wie viel Hässliches es zu geben braucht und wie es verteilt sein sollte. Muss in einer Stadt jedes zweite Haus hässlich sein, damit die schönen Häuser als solche auffallen können? Oder nur jedes zehnte? Reicht es vielleicht, wenn es im ganzen Land eine einzige hässliche Straßenzeile gibt? Dass die abstrakte Eigenschaft des Hässlichen irgendwie nötig sein könnte, lässt kaum verbindliche Schlüsse dazu zu, welche hässlichen Gegenstände man loben sollte und warum.

Die Kunst des Hässlichen

Ein anderes Argument bezieht sich auf das Hässliche spezifisch in der Kunst: Es gibt die Forderung, dass gesellschaftliche und politische Verhältnisse, die Hässliches hervorbringen, auch abgebildet werden müssen. Verwüstungen des Krieges, Hungersnot, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Gewalt und so weiter sind – ästhetisch betrachtet – hässlich. Es ist aber geradezu moralisch geboten, dass hässliche Kunst geschaffen wird, die derartige Zustände abbildet. Und dies lässt sich über die reine Abbildung hinaus ins Metaphorische heben: Es gibt widerwärtige Arten des Denkens und Fühlens, die es verdienen, dass sie angeprangert werden, und das ist nur durch Hässlichkeit in der Darstellung möglich. Georg Scholz’ berühmtes Bild »Industriebauern« von 1920 ist hier ein gutes Beispiel.

Hässliche Kunst | In seinem 1920 geschaffenen Bild »Industriebauern« verarbeitete der Maler Georg Scholz (1890–1945) ein persönliches Erlebnis. In der entbehrungsreichen Zeit nach dem ersten Weltkrieg hatte er einen Bauern um Nahrung für seine Familie gebeten, wurde jedoch schroff abgewiesen. Sein Werk, das heute im Wuppertaler Von der Heydt-Museum zu sehen ist, sollte die hässliche Seite des Menschen vermitteln, die in dieser Begegnung lag.

So können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass es hässliche Kunst geben kann, die wir dennoch wertschätzen müssen. Ist diese Art von Hässlichkeit aber die, die Robert Gernhardt in Metzingen erblickte? Ihm ging es in seinem Gedicht vor allem darum, die Stadt als »Konsum-, Schaff- und Raff-Zentrum der schlimmsten, weil vollkommen auf blanke Notwendigkeit beschränkten Sorte« zu kritisieren, wie er später erläuterte. Kann man die typische hässliche westdeutsche Fußgängerzone also als etwas interpretieren, was einen moralischen Missstand abbildet? Muss man sie dafür gar wertschätzen? Diese Frage möchte ich gerne offenlassen.

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