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Warkus’ Welt: Philosophie-Ikone wider Willen

Vor 50 Jahren verstarb Hannah Arendt, eine der wichtigsten Figuren des politischen Denkens des 20. Jahrhunderts. Eine Würdigung durch unseren Philosophie-Kolumnisten.
Eine Person lehnt sich an eine Wand und blickt nachdenklich zur Seite. Sie trägt ein dunkles Oberteil mit einem runden Schmuckstück am Kragen. Der Hintergrund ist schlicht und hell, was den Fokus auf die Person lenkt.
Hannah Arendt (1906–1975) im Jahr 1949.
Haben Katzen das bessere Leben? Gibt es eine Pflicht, sich zu empören? Hat alles, was existiert, etwas gemeinsam? Matthias Warkus blickt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« mit den Augen des Philosophen auf Alltägliches und Außergewöhnliches.

Das unter Philosophen wohl meistgesehene Fernsehinterview aller Zeiten beginnt mit einem Protest: Sie sei überhaupt keine Philosophin, weist die Dame mit der dunklen Hornbrille und der Zigarette in der Hand den Journalisten Günter Gaus zurecht. Vielmehr betreibe sie politische Theorie. In dem legendären Gespräch aus der Reihe »Zur Person« im Jahr 1964 beschreibt Hannah Arendt (1906–1975) ihre Arbeit als Nachdenken über den politisch handelnden – und nicht den philosophisch reflektierenden – Menschen. Denken über Handeln ist allerdings immer noch Denken, und deshalb gilt die am 4. Dezember 1975 in New York verstorbene, aus Linden bei Hannover stammende Denkerin heute den meisten als Philosophin, auch wenn sie selbst mit dieser Einordnung nicht einverstanden war.

Arendts bleibende Berühmtheit verdankt sich vor allem drei Hauptwerken. Ihr erstes und umfangreichstes, »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« von 1951, ist ein veritabler Ziegel von fast 1200 Seiten. Die darin – in der ersten Auflage noch zu Lebzeiten Stalins – dargestellte Totalitarismustheorie wurde so wirkungsvoll, dass sie heute zumindest in Grundzügen sogar vielen bekannt ist, die mit Arendts Namen kaum etwas verbinden. Hannah Arendt betrachtet Nationalsozialismus und Stalinismus darin als die historisch einzigen vollen Ausformungen des Totalitarismus.

Zwei Spielarten des Totalitarismus

Nachdem sie die Bedeutung von Antisemitismus und rassistischem Imperialismus für die Entstehung dieser beiden Spielarten des Totalitarismus nachgezeichnet hat, zeigt sie auf, welche Elemente ihnen eigen waren: eine Masse voneinander entfremdeter Individuen, für die der Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion bedeutungslos geworden ist; eine pseudowissenschaftliche Theorie, die beansprucht, alles erklären und begründen zu können; ein chaotischer, ungeordneter Staat, der rasende, ebenso mörderische wie sinnlose Aktivität entfaltet; Geheimpolizei und Konzentrationslager als zentrale Institutionen; Terror als alles zusammenhaltendes Band. Ihr Totalitarismuskonzept kann als eine Form der Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus verstanden werden. Das haben ihr Kritiker oft vorgeworfen – und wird bis heute heiß diskutiert. Die historische Bedeutung ihres Werks ist jedoch unbestreitbar.

Auch Arendts umstrittenstes (und bekanntestes) Werk befasst sich mit Totalitarismus, allerdings nicht in enzyklopädischer Breite, sondern am Beispiel eines berühmten Einzelfalls: Ihre mehrteilige Reportage vom Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann (1906–1962), im Jahr nach dessen Hinrichtung zunächst als Serie im Magazin »The New Yorker« erschienen und später als »Eichmann in Jerusalem« in Buchform verlegt. Diesem Text verdanken wir den ebenso sprichwörtlich gewordenen wie bis heute hochkontroversen Ausdruck der »Banalität des Bösen«. Die Vorstellung, Spitzentäter wie Eichmann seien farblose Bürokraten gewesen, die im Prinzip alles mit ähnlicher Leidenschaftslosigkeit hätten organisieren können wie den millionenfachen Massenmord, ist bis heute populär – auch wenn sie bei Arendt so gar nicht steht. Zudem lag es Arendt fern, dafür zu argumentieren, das Böse sei generell oder gar immer banal. Ihr ging es darum, dass man nicht dämonisch, sadistisch, pathologisch sein muss, um das »zutiefst« Böse zu tun, sondern dass im Gegenteil eine bestimmte Form der Gleichgültigkeit, der Oberflächlichkeit und der Denkverweigerung das Böse ausmacht.

Die irreversiblen Folgen politischen Handelns

Die Arendt-Forschung der jüngeren Zeit bekräftigt die Bedeutung ihrer Werke zu Totalitarismus und dem Bösen auch weit über 50 Jahre nach Erstveröffentlichung. Ebenfalls viel gelesen ist ihr drittes Hauptwerk, das Opus magnum »Vita activa« (»Vom tätigen Leben«) von 1958. Darin beschäftigt sie sich intensiv mit den praktischen Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen als Individuen, deren Leben einen Anfang hat und die zwar arbeiten müssen, um ihre materielle Existenz zu sichern, die aber auch selbstbestimmt in Spontaneität und Freiheit tätig werden können. Dabei spielt besonders eine Rolle, dass politisches Handeln dauerhafte, irreversible Wirkungen hinterlässt – ebenso irreversibel wie die Geburt eines Kindes – und über die künftige Möglichkeit von Handeln mitentscheidet

Über Jahrzehnte erfreute sich Hannah Arendt der zweifelhaften Ehre, die »wahrscheinlich wichtigste Philosophin« weltweit zu sein – die eine Frau in einer männerdominierten Disziplin, die überragende Bekanntheit errungen hatte, vielleicht auch wegen ihres Status als popkulturelle Ikone mit dicker Brille und stets brennender Zigarette. Da heute selbst in diesem konservativen und tendenziell trägen Fach die meisten auch über Arendt hinaus ein paar berühmte Philosophinnen nennen können, hat sich dieser Eindruck freilich abgeschwächt. Das war ihrer Bedeutung aber nicht abträglich, im Gegenteil. Hannah Arendt gehört 50 Jahre nach ihrem Tod zu den wichtigsten Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts. Während ihre Rezeption im deutschen Sprachraum etwas stagniert, nimmt sie in der anglophonen Welt noch immer zu. Nachdenken über das 20. Jahrhundert heißt auch Denken mit und über Hannah Arendt.

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