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Warkus' Welt: Warum auch Philosophen nicht Hanna sein wollen

Unter dem Hashtag #IchbinHanna prangern Forschende derzeit die befristeten Verträge an deutschen Hochschulen an. Auch in der Philosophie sind sie ein großes Problem. Eine Kolumne.
enger Gang zwischen gestapelten Büchern vor vollen Bücherregalen

Hanna ist Biologin und hat eine befristete wissenschaftliche Stelle an einer deutschen Hochschule. Hanna versteht, dass es sinnvoll ist, dass sie auf Grund des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bestenfalls zwölf Jahre lang auf diese Weise beschäftigt sein kann, weil sie danach (wenn sie keine Professur ergattert) den Platz für neuen »wissenschaftlichen Nachwuchs« räumen muss. Hanna ist jemand, der mit dem weltweit einzigartigen deutschen Befristungssystem zufrieden ist, und das ist so haarsträubend unrealistisch, dass es nicht wundert, dass Hanna bloß eine fiktive Gestalt ist: eine Figur in einem PR-Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Das Ministerium hat das Video inzwischen wieder gelöscht, da es unter dem Hashtag #IchbinHanna große Empörung in den sozialen Medien auslöste. Die Gründe dafür allgemein zu diskutieren, würde den Rahmen dieser Kolumne sprengen. Ich möchte deshalb nur darauf eingehen, wie das Problem aus philosophischer Sicht aussieht.

Hanna, die ja Biologin ist, wird im Video des Ministeriums mit einem Mikroskop dargestellt – vielleicht das populärste Bild für experimentelle Wissenschaft in den Medien überhaupt, darunter kann sich jeder etwas vorstellen. In der Philosophie gibt es hingegen kein Labor und keine Feldforschung, sondern letztlich nur Texte, Texte über Texte und Reden über Texte über Texte. Warum genau sollte der deutsche Staat also mehr Leute in diesem Bereich unbefristet anstellen? Dafür gibt es mindestens drei gute Gründe.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Erstens: Texte sind nicht einfach so da, sondern müssen ediert werden, und zwar umso mehr, je älter sie sind und je unbekannter die Verfasserin oder der Verfasser ist. Das heißt: Fachleute für ihren Inhalt und für die Epoche, in der sie entstanden sind, müssen die verschiedenen überlieferten Varianten vergleichen, einen »Konsenstext« zusammenstellen, anmerken, wo die Varianten abweichen, und vor allem einen Apparat von Kommentaren ergänzen, der zum Beispiel angibt, wo genau Zitate ohne Quellenangabe herkommen. Das Ganze muss dann von einem Verlag herausgebracht werden, was viel Redaktions- und Korrekturaufwand bedeutet, und/oder auf einer forschungsgeeigneten Onlineplattform. Das ist sehr viel Arbeit, die große Spezialisierung und jahrelange Einarbeitung erfordert. Die Edition eines einzigen großen Klassikertextes kann Jahrzehnte beanspruchen. Nahezu alle Editionsprojekte in der deutschsprachigen Philosophie leiden darunter, dass es so schwierig ist, das dafür nötige Personal dauerhaft zu beschäftigen.

Mit ständig wechselndem Personal lassen sich keine gute Bedingungen für Studenten schaffen

Zweitens: Wer Philosophie studiert, muss umfangreich Techniken des Argumentierens und des Kritisierens fremder Argumente lernen. Diese zu vermitteln, ist nicht trivial, weswegen am Anfang eines Studiums die aufwändigsten Lehrveranstaltungen stehen – Einführungsseminare, Logikkurse, Schreibkurse, verbunden mit Tutorien zur Nachbereitung, idealerweise in kleinen Gruppen. (Der gute Ruf der britischen Eliteuniversitäten hat unter anderem damit zu tun, dass die Gruppengröße in Tutorien dort oft gleich eins ist: Ein Tutor betreut einen Studenten.) Tutoren müssen wiederum geschult werden. Je besser ein Philosophiestudiengang sein soll, desto besser müssen all diese Angebote für die Eingangsphase inhaltlich und organisatorisch sein. Nur mit befristet angestellten Kräften, die alle paar Jahre wechseln, lässt sich auf Dauer kein exzellentes Studium anbieten.

Drittens: Auch wenn es in Geisteswissenschaften keine Teilchenbeschleuniger gibt, werden die Forschungsprojekte immer größer. Das gilt für die Philosophiegeschichte, in der es heutzutage üblich ist, ganze Netzwerke kommunizierender Gelehrter in vergangenen Jahrhunderten wiederauferstehen zu lassen. Es gilt aber auch für die aktuelle Forschung. Die Spezialisierung einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielsweise in der Sprachphilosophie oder in der angewandten Ethik ist so groß und die Einarbeitung so aufwändig, dass auch in der Philosophie auf vielen Gebieten Forschung eigentlich nur noch in arbeitsteiligen, langfristigen Verbundprojekten realistisch ist. Eine Personalstruktur aus einigen wenigen Professoren und mehr als 90 Prozent befristet Angestellten auf Ein- bis Dreijahresverträgen ist dafür genauso ungeeignet wie für Grundlagenforschung etwa in der Pharmaindustrie. Manches braucht eben seine Zeit.

In der deutschen Philosophie ist es inzwischen unbestritten, dass das gegenwärtige Modell das Ende der Fahnenstange erreicht hat. Es werden reihenweise Hochqualifizierte im fünften Lebensjahrzehnt »aussortiert«, sofern sie es nicht in die dünne Schicht der Professorinnen schaffen, während alle Arbeitsbereiche darunter ächzen, dass es quasi unmöglich ist, jemanden für länger als ein paar Jahre für dieselbe Aufgabe einzustellen. Die beiden großen philosophischen Fachgesellschaften haben daher bereits vor einigen Jahren ein Papier mit Reformvorschlägen vorgelegt. Entweder durch Schaffen von »Mitarbeiterstellen mit Entfristungsoption«, wie sie als »Lecturer«-Stellen zum Beispiel in England üblich sind, oder durch mehr Juniorprofessuren mit »Tenure Track«, also mit einem definierten Übergang in die unbefristete Professur, soll das Problem langfristig angegangen werden. Am Ende sollen Institute mit weniger prekärem »Fußvolk« und stattdessen einem stärkeren Kernteam aus dauerhaft Beschäftigten stehen. Leider ist aktuell nicht erkennbar, dass eine solche Reform des deutschen Philosophiebetriebs in nächster Zeit auch nur beginnen wird.

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