Warkus' Welt: Die Kunst, auf der Party das Bier zu finden

Die Jahreszeit, in der man Getränke draußen kalt stellen kann, ist zwar vorbei, aber stellen Sie sich trotzdem einmal Folgendes vor: Sie sind auf einer Party und haben Durst. Ihren drei Freunden geht es genauso. Andere Leute auf der Party trinken Flaschenbier, es muss also irgendwo welches geben. Auf dem Balkon stehen in einer dunklen Ecke zwei Getränkekisten. Sie gehen hin, ziehen blind eine Flasche heraus und halten sie ins Licht. Spezi! Okay, falsche Kiste. Sie probieren die andere aus, ziehen erneut eine Flasche heraus und – das ersehnte Bier! Blind ziehen Sie drei weitere Flaschen und nehmen sie für Ihre Freunde mit hinein, die drinnen schon einmal die Couch in Beschlag genommen haben.
Was ist an diesem recht alltäglichen Vorgang bemerkenswert? Wenn wir ihn in wissenschaftlichen Begriffen analysieren, könnte man sagen, dass Sie ein Experiment durchführen, nämlich eine Stichprobe von etwas Größerem nehmen, und anhand der Untersuchung dieser Stichprobe einen Schluss ziehen.
Die Klassiker: Deduktion und Induktion
Die beiden klassischen Arten des logischen Schließens sind die Deduktion und die Induktion. Bei der Deduktion schließt man von einer Allaussage auf einen Einzelfall. Wenn Sie mit Sicherheit wissen, dass alle Flaschen einer Kiste Bier enthalten, dann wissen Sie ebenso sicher, dass eine beliebige Flasche, die Sie aus dieser Kiste herausnehmen, Bier enthalten wird. Dass Sie am Ende blind drei Flaschen ziehen, um auch Ihre Freunde zu versorgen, ist also eine Anwendung deduktiven Schließens. Sie handeln auf der Grundlage des Satzes »Alle Flaschen in dieser Kiste enthalten Bier.«
Induktion wiederum ist der Schluss vom Einzelfall auf die Allaussage. Wenn Sie nacheinander 19 Flaschen aus einem Kasten nehmen und sie alle Bier enthalten, kann Sie das zu dem Schluss bringen, dass alle Flaschen in der Kiste Bier enthalten und somit auch die letzte Flasche keine Ausnahme darstellen wird. Die Induktion ist eine notorisch störanfällige Schlussform, weswegen es auch die Rede vom so genannten Induktionsproblem gibt. Es könnte ja sein, dass die 20. Flasche aus irgendeinem Grund gerade keine Bierflasche ist. Über Jahrhunderte hat sich die Philosophie mit der Frage beschäftigt, woher in solchen Fällen Sicherheit kommen kann oder eben nicht.
Aber sind Sie in diesem Fall per Induktion auf die Allaussage gekommen? Sie haben aus beiden Kästen nur eine Flasche genommen. Wenn man es ausbuchstabiert, hat Sie folgender Gedankengang zur Allaussage geführt:
1. Es gibt auf dieser Party eine Quelle für Bierflaschen.
2. Auf dem Balkon stehen zwei Getränkekisten.
3. Daraus ergibt sich: Eine dieser Kisten muss Bier enthalten.
4. In Kiste A ist eine Flasche Spezi.
5. Die beiden Kisten enthalten unterschiedliche Getränke, aber alle Flaschen in einer Kiste enthalten jeweils das gleiche Getränk.
6. In Kiste B ist eine Flasche Bier.
7. Daraus folgt: Alle Flaschen in Kiste B enthalten Bier.
Satz Nummer 5 ist dabei kein strenger, zwingender logischer Schluss, sondern eine Hypothese, die Sie ad hoc aufstellen, um zwei Beobachtungen miteinander zu vereinen, nämlich, dass es auf der Party Bier gibt, in einem der Kästen aber mindestens eine Flasche Spezi ist. Natürlich könnte die Hypothese falsch sein. Beispielsweise könnten die Kästen nicht sortenrein befüllt sein, sondern etwa halb Spezi und halb Bier. Oder jemand hat sich im Getränkemarkt richtig ausgelebt, und in den zwei Kästen sind 40 verschiedene Getränke enthalten. Vielleicht hat jemand auch einen Fehler gemacht und die Kisten enthalten 39 Flaschen Bier und genau eine Flasche Spezi. Aber besonders wahrscheinlich ist das alles nicht.
Abduktion: Von der Beobachtung zur möglichen Erklärung
Der Schluss aus den Sätzen 1 bis 4 auf Satz 5 ist also keine Deduktion, aber auch nicht wirklich eine Induktion. Von dem großen amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce (1839–1914) stammt dafür die Bezeichnung »Abduktion«. Nach Peirce ist jede Art von wissenschaftlicher Hypothesenbildung, aber auch ein Großteil unseres Alltagsdenkens – ja eigentlich jedes kreative Denken überhaupt – abduktiv. Wir stellen ständig solche Schlüsse von Beobachtungen auf hypothetische, zufrieden stellende Erklärungen an. Abduktion ist dabei immer ein Schluss »nach bestem Wissen und Gewissen«. Man beobachtet etwas und überlegt sich eine plausible, aber nicht zwingende Erklärung. (Im modernen philosophischen Sprachgebrauch bezeichnet Abduktion tendenziell nicht mehr jeden Schluss auf eine ausreichende, sondern nur den Schluss auf die beste Erklärung.)
Sie könnten natürlich einwenden, dass Sie bei Ihrer Aktion auf dem Balkon, die vielleicht nicht einmal eine Minute gedauert hat, niemals eine ausformulierte Hypothese im Kopf hatten oder dass meine Rekonstruktion Ihrer Schlüsse nicht ganz stimmt. Beispielsweise, weil Sie von vornherein davon ausgegangen sind, dass alle Kästen unterschiedlich, aber sortenrein befüllt sind, und Sie daher lediglich induktiv geschlossen haben. Logische Termini sind bei Anwendung auf die konkrete Realität, gerade wenn es um so etwas Lockeres und Unbestimmtes wie Abduktion geht, in der Regel bloß Beschreibungsvorschläge. Aber wie alle guten philosophischen Begriffe bieten sie uns eine Sprache, um analytisch und differenziert über Vorgänge zu diskutieren – und das vielleicht ja auch bei einer Flasche Spezi!
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