Warkus’ Welt: Mutieren die USA zur Tech-Oligarchie?

Letzte Worte können es in sich haben. In seiner Abschiedsrede vom Präsidentenamt warnte Joe Biden die USA und die Welt vor einem »techno-industriellen Komplex«, der seine Nation bedrohe. Mit dieser Formulierung spielte er auf die Abschiedsrede von Dwight D. Eisenhower an, der 1961 angemahnt hatte, sein Land müsse die Macht eines »militärisch-industriellen Komplexes« begrenzen. Vergleicht man beide Reden, findet man jeweils recht detaillierte Aussagen zu Struktur und Einfluss dieser zwei »Komplexe«.
Bei allen Gemeinsamkeiten sticht jedoch ein Unterschied sofort ins Auge: Die Verflechtung von Staat und Rüstungsindustrie, die Eisenhower Anfang der 1960er beunruhigte, verkörperten riesige, gesichtslose Bürokratien, für die das Pentagon als lange Zeit größtes Bürogebäude der Welt bis heute geradezu symbolisch steht. Der »techno-industrielle Komplex« unserer Zeit hingegen ist das genaue Gegenteil von gesichtslos: Das, was sich da verflicht, wird durch Donald Trump und vor allem Elon Musk eindeutig personifiziert, in der zweiten Reihe vielleicht noch durch weitere Tech-Milliardäre wie Mark Zuckerberg und Jeff Bezos. Bidens Warnung vor dem »techno-industriellen Komplex« ist mit anderen Worten die Warnung vor einer Oligarchie, die sich die USA einverleiben könnte. Und genau das sprach der scheidende Präsident auch explizit aus.
Oligarchie, die Herrschaft der Wenigen, ist ein Begriff, der sich bereits in politiktheoretischen Abhandlungen der Antike findet, allen voran in Aristoteles' äußerst einflussreicher Schrift »Politik«. Nach dem dort entwickelten Schema, an dem sich bis mindestens ins 18. Jahrhundert hinein zahlreiche Denker orientierten, gibt es grundsätzlich drei Kategorien von Staatsverfassungen: In der ersten herrscht ein Einzelner, in der zweiten eine relativ kleine Gruppe von Bürgern und in der dritten eine große Gruppe oder gar »alle«. Jede dieser Verfassungsarten kann man sich entweder als korrekt angelegt oder vom Richtigen abweichend vorstellen, je nachdem, ob die Herrschenden das Gemeinwohl oder nur den eigenen Vorteil im Sinn haben.
So ergibt sich die Monarchie als »gute« Einzelherrschaft mit der Tyrannei als davon abweichende Form. Bei der Massenherrschaft führt Aristoteles die »gute« Politeia auf und bezeichnet die Demokratie als Abweichung. (Ja, Sie haben richtig gelesen. Aristoteles verwendete diesen Begriff allerdings anders als wir heute. Heute sind Bezeichnungen gängiger, die auf den griechischen Geschichtsschreiber Polybios zurückgehen. Er nannte die »gute« Form »Demokratie« und die abweichende Form »Ochlokratie«, die »Herrschaft des Pöbels«.) Als Herrschaft einer kleinen Gruppe nennt Aristoteles als »gute« Form die Aristokratie – die »Herrschaft der Besten« – und als abweichende Form eben die Oligarchie.
Oligarchie als eigennützige Regierung von Wenigen ist nach Aristoteles ganz lapidar die Herrschaft der Reichen
Oligarchie als eigennützige Regierung von Wenigen ist nach Aristoteles ganz lapidar die Herrschaft der Reichen. (Demokratie als eigennützige Massenherrschaft ist für ihn hingegen die Herrschaft der Armen.) In einer vorindustriellen Gesellschaft, in der Land die wichtigste Form von produktivem Kapital darstellte, waren Oligarchen also in aller Regel Großgrundbesitzer. Beim Wort genommen, passt der Ausdruck »Oligarchie« also möglicherweise ganz hervorragend auf die Herrschaftsform, in die die USA nach Bidens Befürchtung hineingeraten könnten: eine Herrschaft der Besitzenden der wichtigsten Form von produktivem Kapital – nur dass es heute nicht mehr um Ackerland geht, sondern um hoch profitable Großkonzerne, die Kontrolle über Daten, Kommunikationsplattformen und die öffentliche Meinung ausüben.
Folgt man der Philosophin und Politikwissenschaftlerin Melissa Lane von der Princeton University, so drehte sich der entscheidende politische Konflikt im klassischen Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. um die Frage, was es bedeutet, Gleichen gleiches Recht geschehen zu lassen – und damit auch, wer zu diesen »Gleichen« zählt und somit an der Macht zu beteiligen ist. Auch über mögliche Begründungen dafür wurde debattiert: Liegen die Unterschiede zwischen den Menschen sozusagen in der Natur der Sache? Oder sind sie willkürlich gesetzt? Daraus erklärt sich dann der philosophische Streit um die beste Staatsform. Heute kann dieser Streit zumindest in der Theorie als offiziell beigelegt gelten: Artikel 21 der Erklärung der Menschenrechte legt faktisch die Demokratie mit allgemeinen, gleichen und freien Wahlen als einzig menschenrechtskonforme Staatsform fest.
Eine Republik, keine Demokratie?
Diese Festlegung ist, historisch betrachtet, freilich recht jung. Die von Aristoteles beeinflusste Tradition neigte entsprechend seinem Ideal der »goldenen Mitte« stets dazu, Verfassungen mit Mischungen der drei verschiedenen Elemente zu präferieren. Bis heute zeigt sich das zum Beispiel darin, dass altmodische amerikanische Konservative Wert darauf legen, die USA seien keine Demokratie, sondern eine Republik. Damit stellen sie ihr Land in eine Linie mit der Römischen Republik, die nach traditioneller Auffassung monarchische, aristokratische und demokratische Elemente miteinander verband.
Die Oligarchie im Sinne einer Herrschaft der Wenigen und Mächtigen ist aber historisch nie gut weggekommen. Der französische Aufklärer Montesquieu (1689-1755) etwa stellte fest, dass sie faktisch eine Despotie mit mehreren Despoten ist: Innerhalb der schmalen regierenden Schicht herrscht eine republikanische Freiheit, der Rest ist dieser Schicht gewaltsam unterworfen. Positive Bewertungen der Oligarchie finden sich am ehesten noch bei jenen, die davon ausgehen, dass sich in jeder Art von Organisation ohnehin stets eine schmale Machtclique durchsetzt. Dass die italienischen Elitentheoretiker Vilfredo Pareto (1848–1923) und Robert Michels (1876–1936), die als führende Vertreter dieses Denkens gelten können, entschieden für den Faschismus eintraten, sollte daher niemanden überraschen.
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