Warkus' Welt: Seelenwanderung und dicke Bohnen

Der rein vom Namen her bekannteste Philosoph der griechischen Antike ist vermutlich keiner der großen Klassiker Sokrates, Platon oder Aristoteles, sondern jemand, der etwa 150 Jahre früher lebte und keinerlei Schriften oder Überlieferung aus erster Hand hinterlassen hat. Berühmt ist er außerdem für etwas, was er nie getan hat. Wie kommt das?
Die Rede ist von Pythagoras von Samos (ca. 570–490 v. Chr.), bekannt für den nach ihm benannten Lehrsatz a2 + b2 = c2, Sie wissen schon … Dieser war allerdings schon tausend Jahre vor Pythagoras in Mesopotamien bekannt; und es ist tendenziell unwahrscheinlich, dass der Gelehrte ihn entdeckt, überliefert oder bewiesen hat, obwohl es vereinzelt Historiker gibt, die eine Verbindung für möglich halten.
Religiöse Sekte oder philosophische Schule?
Dass Pythagoras mit »seinem« Lehrsatz assoziiert wird, hat weniger mit ihm selbst zu tun als mit der sich auf ihn berufenden weltanschaulichen Strömung, den Pythagoreern. Ich sage »weltanschaulich«, weil auch hier die Quellen wenig hergeben und daher unklar ist, ob es sich nicht eher um eine Art religiöse Sekte als eine philosophische Schule handelte. Jedenfalls versuchten die Pythagoreer noch zu Lebzeiten ihres Meisters, in den griechischen Städten im heutigen Italien Einfluss auf die Politik zu nehmen, was sogar zu blutigen Unruhen führte. Aus der Überlieferung der Pythagoreer stammt die Idee, dass das Universum in allen Teilen mathematisch geordnet sei, und zwar vor allem nach Verhältnissen ganzer Zahlen. Daher kommt vermutlich auch die Assoziation von Pythagoras mit dem Dreieckssatz und entsprechenden Zahlentripeln (zum Beispiel 32 + 42 = 52).
Doch was lehrten Pythagoras und seine Anhänger wirklich? Das ist ebenfalls schwer mit Sicherheit zu sagen, weil sich schon in antiker Zeit viele Legenden um sie rankten. Folgt man dem amerikanischen Altphilologen und Philosophiehistoriker Carl A. Huffman, ist das Einzige, was man absolut sicher aus zeitnahen Quellen schließen kann, dass Pythagoras sich für das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod interessierte und dass er seine Anhänger eine bestimmte Lebensweise lehrte. Über all das wisse man allerdings inhaltlich nichts Näheres.
Der Meister mit dem goldenen Oberschenkel
Ziemlich sicher ist laut Huffman dafür, dass er die Seele als unsterblich ansah und irgendeine Form von Reinkarnation vermutete, dass also beispielsweise verstorbene Menschen als Tiere wiedergeboren werden könnten. Ebenfalls in den frühesten Quellen tauchen Erzählungen auf, denen zufolge Pythagoras etwas Übermenschliches an sich hatte. So soll einer seiner Oberschenkel aus Gold gewesen sein. Außerdem habe er Wunder gewirkt. Beispielsweise sei er an zwei Orten zur gleichen Zeit gewesen oder konnte sich mit einem Fluss unterhalten.
Anscheinend hatte Pythagoras sonst recht starke Meinungen dazu, wie die Rituale der damaligen griechischen Religion korrekt auszuüben waren, insbesondere, was Begräbnisse betraf – kein Wunder bei seiner intensiven Beschäftigung mit Tod und Wiedergeburt.
Waren die Pythagoreer Vegetarier?
Zudem hatten die Pythagoreer strikte Ernährungsregeln, deren Leitlinien jedoch unbekannt sind. Eines ihrer Gebote drehte sich wohl um die Ackerbohne; »dicke Bohnen« waren damals ein Grundnahrungsmittel. Ob Pythagoras ihren Genuss jedoch verbot oder – genau umgekehrt – zu ihm riet, lässt sich nicht sagen. Auch ist unklar, ob die Pythagoreer strenge Vegetarier waren. Dass Pythagoras die Vorstellung hatte, der Kosmos sei mathematisch geordnet, trifft jedoch sicher zu. Allerdings haben erst seine Nachfolger konkrete Forschungen dazu getrieben, wie sich etwa astronomische und musikalische Phänomene mathematisieren ließen.
Was bringt es uns nun heute, darüber nachzudenken, was jemand, von dem noch nicht einmal ein einziges Fragment überliefert ist, vor über 2500 Jahren im griechisch kolonisierten Süditalien über Seelenwanderung und dicke Bohnen lehrte? Als Erstes natürlich, dass antike Philosophiegeschichte, wie alles, was mit antiker Überlieferung zu tun hat, voller Unklarheiten, nachträglicher Stilisierungen und Meinungsverschiedenheiten ist. Die traditionellen Legenden über Pythagoras haben mit dem realen Menschen wohl so viel zu tun wie das Klischeebild von Jesus als Sandalenhippie mit seiner historischen Person. Der Vergleich passt auch deswegen, weil sich hier zeigt: Die abendländische Philosophie, die sich heute weitgehend als wissenschaftliches Unternehmen versteht, hatte ebenfalls Anfänge in Lebensratschlägen, religiöser und sogar esoterischer Spekulation, also genau bei dem, was man heute gerne für besonders unphilosophisch hält. Philosophiegeschichte kann vieles lehren – in jedem Fall aber Bescheidenheit.
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