Warkus’ Welt: Das Geschenk-Paradox

Schenken ist paradox. Eigentlich kann man gar nichts wirklich schenken.
Das wird Sie vielleicht erstaunen, da Sie (wenn Sie es mit dem Großteil der deutschen Bevölkerung halten) rein statistisch gerade Geschenke im Wert von mehreren hundert Euro gemacht haben. Klingt das verrückt oder nur wie ein großes Missverständnis?
Die Idee, dass Schenken unmöglich ist, ist nicht irgendein Spleen. Sie wurde von einem der bekanntesten Philosophen des 20. Jahrhunderts geäußert, dem Franzosen Jacques Derrida (1930–2004). In seinem ursprünglich 1991 erschienenen Buch »Zeit geben« (»Donner le temps«) schrieb er: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe (dass irgend ›einer‹ irgend ›etwas‹ irgend ›jemand anderem‹ gibt) bezeichnen zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit der Gabe.«
Was soll das heißen?
»Bedingung der Möglichkeit« ist eine in der Philosophie gängige, auf Immanuel Kant (1724–1804) zurückgehende Formulierung. (Sie ist tatsächlich so verbreitet, dass ich den Ausdruck in meinen Notizen in Studium und Promotionszeit irgendwann nur noch platzsparend »BdM« abgekürzt habe.) Dass etwas die Bedingung der Möglichkeit von etwas anderem ist, heißt, dass es notwendig vorausgesetzt wird. So ist es eine gängige Vorstellung, dass das Vergehen von Zeit die Bedingung der Möglichkeit von Veränderung ist, da sich nichts verändern könne, ohne dass Zeit vergeht. (Oder ist es umgekehrt? Das wäre ein Thema für eine andere Kolumne.)
Derrida stellt im Prinzip etwas sehr Selbstverständliches fest: Was Geschenke der Definition nach ausmacht, ist, dass sie keine Gegenleistung einfordern. Zugleich ist es aber geradezu eine Konstante menschlicher Kultur überhaupt, dass Geschenke faktisch dann doch irgendwie immer eine Gegenleistung einfordern. Das hat der französische Ethnologe Marcel Mauss (1872–1950) in seinem Essay »Die Gabe« (1923/24) festgestellt, dem wahrscheinlich berühmtesten Text, der je über das Schenken geschrieben wurde. Gaben müssen erwidert werden; Austausch und Zirkulation von Gaben spielen in der menschlichen Kultur eine zentrale Rolle.
Kein Geschenk, sondern eine Zahlung
Das ist nun vielleicht nicht notwendigerweise so. Aber nach Derrida vernichtet nicht nur die Reaktion auf ein Geschenk durch ein anderes Geschenk, sondern überhaupt jede Reaktion und auch jede Erwartung den Charakter der Gabe. Schon allein, dass ich weiß, dass bald Weihnachten ist und meine kleine Cousine (die ich sonst nie sehe) und ihre Eltern aus diesem Anlass ein Geschenk erwarten – dessen Beschaffenheit darüber mitbestimmen wird, wie sie in nächster Zeit von mir denken – , macht aus dem Geschenk und seiner Ausgestaltung eine Art Pflicht. Doch eine Gabe aus Pflicht ist kein Geschenk mehr, sondern eine Zahlung. Ein wahres Geschenk müsste somit eigentlich völlig unerwartet aus dem Nichts kommen und von allen Beteiligten sofort vergessen werden, aber was soll ein solches Ereignis verursachen können? Also ist wahres Schenken unmöglich.
Diese Überlegungen Derridas sind verwandt mit anderen, in denen er eine paradoxe Natur scheinbar völlig alltäglicher Strukturen von Sprechen und Handeln herausarbeitet. So hat er auch ganz analog argumentiert: Verzeihen könne man eigentlich nur das Unverzeihliche. Fachsprachlich gesagt führt Derrida uns hier in Aporien: Widersprüche, aus denen heraus scheinbar kein sinnvolles Handeln mehr möglich ist – obwohl, das muss man hinzufügen, häufig in der Lebenswelt dann eben doch gehandelt wird.
Die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren
Wenn mich meine Intuition nicht völlig trügt, dann können Sie diesen paradoxen Charakter des Geschenks vermutlich nachvollziehen, da Derrida Gedanken auf die Spitze treibt, die niemandem ganz fremd sein dürften, der in einer Kultur lebt, in der ständig zu allen möglichen Anlässen Geschenke gemacht werden; wo man dazu aufgefordert wird, spontan zu sein; wo Überraschungen erwartet werden; wo vieles (Ehen, Berufstätigkeiten, Fernsehserien) idealerweise irgendwie zugleich unzerstörbar dauerhaft und doch immer wieder anders und neu sein soll.
Man kann versuchen, sich Widersprüchen kategorisch zu verweigern. Ein anderer Weg, mit ihnen umzugehen, der ebenfalls eine große philosophische Tradition hat, besteht darin, sich sozusagen offensiv in sie hineinzustürzen. Vielleicht haben auch Sie zum Beispiel schon einmal reihenweise völlig fantasielose Allerweltsgeschenke wie Socken oder Wein verschenkt und erlebt, dass sie geradezu enthusiastische Freude auslösen; oder Sie haben eines dieser vielbespöttelten Arrangements, in dem sich Leute immerzu das Gleiche schenken – etwa Parfum oder jedes Jahr den gleichen Kuchen – , und sind damit völlig fein; oder Sie betreiben subversive Schenkbräuche wie das beliebte Schrottwichteln. Wie auch immer Sie dieser Tage das Schenkparadox letztlich aufgelöst haben – ich hoffe, Sie hatten, falls Sie feiern, ein frohes Weihnachtsfest. Kommen Sie gut in das neue Jahr!
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