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Warkus' Welt: Wer sind die echten Riesen?

Selberdenken ist ein Ideal der Aufklärung – funktioniert aber nur, wenn man sich auf verlässliche Quellen und echte Autoritäten stützt. Um diese zu finden, braucht es auch »Charakterbildung«, erklärt unser Philosophie-Kolumnist.
Eine Gruppe von vier bemalten Holzfiguren steht auf einer Holzoberfläche vor einem verschwommenen grünen Hintergrund. Die Figuren variieren in Größe und Farbe: eine große Figur in Rot, zwei kleinere in Blau und eine kleinere ebenfalls in Rot. Jede Figur hat ein einfaches, aufgemaltes Gesicht mit unterschiedlichen Haarfarben.
Malen wir uns nur aus, wer eine große Autorität ist, dann ist es mit dem Selberdenken nicht weit her.
Haben Katzen das bessere Leben? Gibt es eine Pflicht, sich zu empören? Hat alles, was existiert, etwas gemeinsam? Matthias Warkus blickt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« mit den Augen des Philosophen auf Alltägliches und Außergewöhnliches.

Es ist so abgedroschen, dass es mich Überwindung kostet, es noch aufzuschreiben: Wir leben in einer Ära, die sich selbst als aufgeklärt begreift. Aufklärung heißt bekanntlich, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Nach Immanuel Kants sprichwörtlicher Definition aus seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1784 handelt es sich um den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Kant im Original: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Dem Selberdenken als Ideal steht nun allerdings einiges im Wege, nicht zuletzt die Notwendigkeit, bestimmte intellektuelle Aufgaben zu delegieren. In einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik sich so weit ausgedehnt und differenziert haben wie in unserer, kann niemand mehr alles wissen und können. Jemand kann ein ganzes Leben daransetzen, alles über Knochenschäden im Mittelohr, eine kleine Gruppe von Fluorverbindungen oder einen einzelnen vergessenen Barockdichter zu lernen – und selbst daran noch scheitern. Das Wissen, auf das wir uns verlassen, wenn wir selbst denken, kommt notwendigerweise zum allergrößten Teil von anderen Menschen. Manchmal direkt, meist aber medial vermittelt. Doch wer oder was ist eine vertrauenswürdige Quelle? Wie können wir dies beurteilen außer durch Versuch und Irrtum, was nur selten praktikabel ist?

Eine Vorgehensweise besteht darin, das Problem einfach zu leugnen. Von dem legendären rechtslibertären US-amerikanischen Sciencefiction-Autor Robert A. Heinlein (1907–1988) stammt folgendes Zitat:

Ein menschliches Wesen sollte eine Windel wechseln können, eine Invasion planen, ein Schiff kommandieren, ein Gebäude entwerfen, ein Sonett schreiben, Konten bilanzieren, eine Mauer bauen, einen gebrochenen Knochen richten, Sterbende trösten, Befehle empfangen, Befehle geben, zusammenarbeiten, allein handeln, Gleichungen lösen, eine neue Aufgabe analysieren, Mist streuen, einen Computer programmieren, ein leckeres Essen kochen, wirkungsvoll kämpfen und tapfer sterben. Spezialisierung ist etwas für Insekten

Die Vorstellung, dass sich jemand mit genügend Hirnschmalz und einer breiten Allgemeinbildung in jedes Problem »hineinarbeiten« kann, ist beliebt. Gerade in den letzten Jahren haben wir aber erleben können, wohin dieses Ideal führen kann. Ausgerechnet die Anhänger von Pseudowissenschaften, Verschwörungstheorien und letztlich irrationalen und vernunftfeindlichen politischen Ideologien glauben meist, aufgeklärte Selbstdenker zu sein. Der deutsche Philosoph Thomas J. Spiegel, der an der Miyazaki International University in Japan lehrt, notierte 2022: »In Verschwörungstheorien offenbart sich eine Weiterführung des Grundgedankens der Aufklärung.« Doch Selberdenken ist nicht alles; es ist auch wichtig, worauf sich das Selberdenken stützt. Spiegel schreibt, »dass wir Kants Gebot zum Selberdenken nur dann sinnvoll Folge leisten können, wenn wir dabei auf den Schultern von Riesen stehen«.

Es geht um epistemische Autorität

Jeder von uns muss also zwischen Riesen und Zwergen unterscheiden können: zwischen Vordenkern, deren Gedanken uns auf dem Weg zu Wahrheit und Autonomie nutzen, wenn wir sie im Selberdenken einbeziehen – und solchen, bei denen es uns schadet. Fachsprachlich ausgedrückt: Es geht um epistemische Autorität. Aber wie gelingt diese Unterscheidung? Der US-amerikanische Erkenntnistheoretiker Alvin Goldman (1938–2024) hat dazu im Jahr 2001 in einem vieldiskutierten Aufsatz mit dem Titel »Experts: Which Ones Should You Trust?« fünf Vorschläge gemacht.

Erstens können wir versuchen, echte von falschen Riesen an ihrer Art, sich in Diskussionen zu verhalten, zu unterscheiden. Wer höflich vorgebrachte Einwände gegen seinen Standpunkt sofort empört und beleidigt zurückweist, ist womöglich ein schlechterer Experte für ein bestimmtes Thema als jemand, der differenziert auf sie eingeht. Zweitens kann man, statt auf Einzelmeinungen zu blicken, die Tendenz einer bestimmten »scientific community« heranziehen. So herrscht unter Fahrlehrern der Konsens, dass sich schnelles Fahren auf langen Strecken zeitlich kaum rentiert; man wird ihnen vielleicht eher glauben als dem einen Onkel, der darauf schwört, er spare stets enorm viel Zeit damit, seinen Cayenne auszufahren. Drittens bietet die formale Ausbildung einen Anhaltspunkt: Eine Fachärztin für Rheumatologie kennt sich vermutlich besser mit Rheuma aus als ein Landschaftsgärtner. Viertens kann man die »nichtepistemischen Interessen« eines eventuellen Experten versuchen einzubeziehen (etwa Lobbytätigkeiten oder familiäre Verstrickungen) und fünftens seine bisherige Erfolgsbilanz.

Mit den Tücken richtig umgehen

Alle diese Kriterien sind allerdings anfällig für Unterwanderung, Täuschung und Irrtum. Ohne selbst ein Experte für ein Thema zu sein, kann man die Qualität fremder Expertise also immer nur näherungsweise beurteilen.

Daraus ergeben sich drei wichtige Folgerungen: zunächst einmal, dass ein effektiver Gebrauch des eigenen Verstands notwendigerweise stets auf Vertrauen in andere angewiesen ist. Zweitens, dass das Urteilsvermögen, mit dem wir abschätzen, ob wir anderen in ihren Überzeugungen vertrauen können, eine eigene Fähigkeit ist, die mit den Inhalten gar nichts zu tun haben muss, obwohl sie für glückenden Verstandesgebrauch faktisch unverzichtbar ist. Das gilt für wissenschaftliche und politische Zusammenhänge ebenso wie für den Alltag: Die Kompetenzen und Erfahrungen, die wir nutzen, um zu entscheiden, ob wir jemandem vertrauen können, von dem wir etwa eine Versicherung oder eine Wärmepumpe kaufen möchten, haben mit inhaltlichen Kenntnissen der jeweiligen Themen wenig zu tun. Somit hat drittens die Fähigkeit einer Gesellschaft, echte aufgeklärte Individuen hervorzubringen, nicht nur mit dem Sammeln und Weitergeben von Daten zu tun, sondern – wie Thomas J. Spiegel es nennt – mit »Charakterbildung«. Tugenden wie intellektuelle Demut, Hingabe, Menschenkenntnis sind mindestens so wichtig wie Skepsis, Genauigkeit und scharfer Verstand.

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  • Quellen
Hauswald, R.: Epistemische Autoritäten, 2024
Spiegel, T.J., Deutsche Zeitschrift für Philosophie 10.1515/dzph-2022–0015, 2022

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