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Warkus' Welt: Toxische Nostalgie

Waren die Menschen früher gesünder? Was wie harmlose Gesundheitsnostalgie klingt, könnte unrühmlichen ideologischen Vorstellungen von »Degeneration« Vorschub leisten, warnt unser Philosophie-Kolumnist.
Eine Familie aus den 1950er Jahren in einem Studio-Setting. Ein Baby in einem weißen Kleid sitzt auf einem Tisch und streckt die Hand aus, um das Gesicht der lächelnden Mutter zu berühren. Der Vater in Hemd und Krawatte beugt sich lächelnd zu ihnen. Der Hintergrund ist einfarbig und weich beleuchtet.
Die kerngesunde Familie – auch das ist ein wirkmächtiges Klischee und Wunschbild (symbolhafte Darstellung).
Haben Katzen das bessere Leben? Gibt es eine Pflicht, sich zu empören? Hat alles, was existiert, etwas gemeinsam? Matthias Warkus blickt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« mit den Augen des Philosophen auf Alltägliches und Außergewöhnliches.

Unterhält man sich mit (oder über) Menschen der Nachkriegsjahrgänge, kommt man schnell auf ein bemerkenswertes Thema: die Anfälligkeit der jüngeren Generationen. Es gibt viele Geschichten darüber zu hören, wie wenig »man« früher krank war, dass so mancher 40 Berufsjahre lang keinen Tag gefehlt hat, während »heute« alle ständig über irgendwelche »Wehwehchen« klagen. Bemerkenswert ist das unter anderem deswegen, weil die Lebenserwartung stark gestiegen ist – in Deutschland seit 1950 von durchschnittlich 66,8 auf 81,4 Jahre. Behauptet man also, »Früher waren die Menschen gesünder«, dann unterstellt man, dass sie bei schlechterer Gesundheit länger leben, und damit vermutlich auch, dass ihre Lebensqualität geringer ist. Denkt man dies zu Ende, kann man sich hypothetisch ein Leben vorstellen, das zwar endlos oder zumindest sehr lang ist, dessen Qualität aber gleich null ist.

Solche Vorstellungen spielen in der jüngeren Geschichte der abendländischen Zivilisationen eine große Rolle. Von dem Gedanken, früher sei man, buchstäblich oder metaphorisch, gesünder gewesen, war man geradezu besessen. Er hallt heute noch wider, wenn etwa »Paläo«- und »Steinzeit«-Ernährung oder Brot aus »Urgetreiden« angepriesen wird. Doch das ist harmlos verglichen mit den Ideen, die das 19. und frühe 20. Jahrhundert zum Thema eines Gesundheitsverfalls im Lauf der Geschichte hatte. Unter dem Schlagwort »Degeneration« beziehungsweise »Entartung« wurden diverse angeblich erbliche, von Generation zu Generation eskalierende Leiden verhandelt, von angewachsenen Ohrläppchen über Fehlbildungen der Gliedmaßen bis hin zu Alkoholismus und anderen schweren – vor allem psychischen – Erkrankungen.

Dieser Diskurs wurde auch auf die kulturelle Ebene gehoben. In den von Wachstum, Urbanisierung und rasendem Fortschritt geprägten Industriestaaten witterte man überall »Dekadenz« und »Verfall«. Der österreichisch-ungarische Mediziner Max Nordau (1849–1923) sah in der Kunst und Kultur Europas eine »Völkerdämmerung« am Werk; sein Buch »Entartung« aus dem Jahr 1892 spielte eine Schlüsselrolle dabei, seinerzeit moderne Kunst zu pathologisieren und mit psychiatrischen Symptomen in Verbindung zu bringen. Die spätere nationalsozialistische Diffamierung »entarteter« Kunst wurde hiervon entscheidend geprägt. Nordau setzte dabei als Jude eine Bewegung in Gang, die später klar antisemitisch werden sollte. Er selbst stellte noch unter anderem die Musik Richard Wagners als »degeneriert« dar, also gerade eine Kunstform, die die Nationalsozialisten besonders schätzten und zum Ideal erhoben. Friedrich Nietzsche, der sich mit seinen Forderungen nach radikaler Therapie von Verfall und Dekadenz (»Was fällt, das soll man auch noch stoßen!«) als »Arzt der Kultur« sah, war für den Arzt Nordau schlicht ein »Tobsüchtiger«.

Wenn Leben als »lebensunwert« abgestempelt wird

Vertreter einer Epoche, die sich bei allem Fortschritt dennoch geradezu wahllos mit Verfall, Krankheit und Untergang beschäftigte, mussten irgendwann auf das Thema eines langen, aber »wertlosen« Lebens kommen. 1920 veröffentlichen der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche die Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«, in der von »geistig Toten« die Rede war. Damit waren nicht Hirntote im heutigen, erst in den 1960er Jahren definierten Sinn gemeint, sondern zum Beispiel Demente oder Kinder mit angeborenen schweren Behinderungen. Binding und Hoche legten so den Grundstein für die späteren Massentötungen »lebensunwerten Lebens« im NS-Staat.

Natürlich gibt es keine durchgängige schiefe Bahn, die von der Überzeugung, »die jungen Leute« wären heute viel öfter krank als früher, bin hin zur Rechtfertigung von Krankenmorden führt. Man erkennt aber, wie auf diesem Gebiet verschiedenste Ideen zusammenspielen. Krankheit, Schwäche, körperlicher Verfall des Individuums; Vererbung von »Entartung« in Familien und Völkern; kulturelle »Dekadenz« – alles kommt zusammen, weil für ideologisches Denken Vagheit und Widersprüchlichkeit überhaupt keine Hindernisse darstellen. Im Hintergrund schlummert stets die Idee, es habe einmal irgendwann eine heroische Vergangenheit von »großer Gesundheit« (Nietzsche) gegeben, sei es bei alten Griechen, romantisierten Germanen oder ausgedachten »Ariern«.

Man könnte nun sagen: Gottlob haben wir das hinter uns. Aber Ideologie ist zäh. »Degenerate« und »degeneracy« gehören fest zum Vokabular rechter Subkulturen im Internet. AfD-Politiker wettern gegen »Dekadenz«; der aktuelle US-Gesundheitsminister beschreibt autistische Kinder in einer Weise, die zu unterstellen scheint, sie könnten nie ein vollgültiges Leben führen (»Sie werden niemals Steuern zahlen, niemals ein Gedicht schreiben«). Es lohnt sich, genau hinzuhören. Wenn Gesundheit obsessiv in der Vergangenheit gesucht wird (»Make America Healthy Again«), hat das in der Gegenwart oft äußerst unangenehme Folgen – für kranke Menschen, aber auch darüber hinaus.

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