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Warkus' Welt: Freiwillig willenlos

Verführung hat etwas Ambivalentes. Wir sollen uns ihr hingeben und doch zugleich vor ihr in Acht nehmen. Wie wir sie bewerten, hängt davon ab, was wir für schützenswert halten, meint unser philosophischer Kolumnist.
Ein Werbeplakat an einer Gebäudewand zeigt eine Frau in schwarzer Unterwäsche und durchsichtigen Strumpfhosen, die auf der Seite liegt. Der Fokus liegt auf den Beinen, die in High Heels stecken, der Oberkörper der Frau ist nicht im Bild. Das Plakat vermittelt Eleganz und Mode.
Die Verführung lauert an jeder Straßenecke.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Als einziger Gast in einem ansonsten menschenleeren Café sitzen – das ist nicht jedermanns Sache. Die ersten Laufkunden des Tages in ein Restaurant zu lotsen, gilt in der Gastronomie daher als echte Herausforderung. Dazu helfen kleine Tricks: Listige Köche werfen, das hat man mir vor Jahren einmal erklärt, Zucker und Speck in eine heiße Bratpfanne und verteilen den appetitlichen Duft im Gastraum. Am besten zieht er gleich noch ein bisschen nach draußen und lockt die Kundschaft an die längst gedeckten Tische.

Dass man von etwas, was lockend duftet, aussieht oder sich anhört, dazu gebracht wird, etwas Bestimmtes zu tun, ist ein gut bekanntes Phänomen. Man kommt dabei eventuell buchstäblich vom Weg ab – wird im Wortsinn ver-leitet, ver-führt.

Verführung ist heutzutage ein Wort mit einem zwiespältigen Klang. Einerseits werden wir durch Werbung und Medien ständig dazu aufgefordert, Verführungen nachzugeben. Mit dem Satz »Lassen Sie sich verführen« werben Städte und Tourismusregionen, Wellnesshotels, Hersteller von Duftkerzen, Badmöbeln, Käse, Tee, gefüllten Schokoladeneiern und viele mehr. Verführtwerden ist also geradezu positiv markiert. Andererseits ist »Verführung« auch noch gängig als Bezeichnung für das erotische »Herumkriegen« eines Menschen, der dabei »schwach wird«. Damit ist sie nah an der Überwältigung. Und zuletzt kennt man die aus gutem Grund negativ belegte Redeweise von Verführung im politisch-ideologischen Sinn, wenn es etwa heißt, die Deutschen hätten sich von Hitler und den Nationalsozialisten »verführen« lassen.

»Manipulation bildet einen Zwischenbereich zwischen dem nackten Zwang und der rationalen Überzeugung«

Diese Ambivalenz der Verführung schlägt sich in der philosophischen Betrachtung nieder. Verführung ebenso wie verschiedene andere Taktiken – etwa jemandem ein schlechtes Gewissen machen, damit er etwas Bestimmtes tut – firmieren unter dem Oberbegriff Manipulation. Manipulation bildet einen Zwischenbereich zwischen dem nackten Zwang und dem, was Philosophen gerne mit einer Formulierung von Jürgen Habermas als »zwanglosen Zwang« bezeichnen: rationale Überzeugung. Wer ohne jeden Zweifel sicher ist, dass eine bestimmte Handlungsweise die einzig vernünftige ist, ist in gewisser Weise gezwungen, so zu handeln, selbst wenn niemand sonst ihn beeinflusst.

Bei Verführung und anderer Manipulation ist aber weder Zwang noch zwingende Rationalität im Spiel. Der himmlische Bratenduft, der aus dem Ratskeller weht, zwingt mich nicht physisch, hineinzugehen und Rouladen zu bestellen. Ebenso wenig gibt es ein wasserdichtes zwingendes Argument dafür, denn Essen bekommt man sicher auch anderswo, wahrscheinlich sogar preisgünstiger. Doch wie ist das Handeln dann moralisch zu betrachten?

Uns in den Ratskeller mit seiner gutbürgerlichen Küche zu locken, scheint harmlos. Bereits in dem Moment, in dem wir darüber nachdenken, ob Rindfleischkonsum nicht schädlich ist und hier nicht Menschen dazu verführt werden, mehr Rind zu essen, als sie es vielleicht sonst täten, werden jedoch Wertungen möglich. Erst recht gilt das für die Verführung beispielsweise durch die kleinen Schnaps- und Weinflaschen an Supermarktkassen, bei denen es als ziemlich gesichert gelten kann, dass ihre Kernzielgruppe Suchtkranke sind. Der Nutzwert ist dabei quasi null, man bekommt weiter hinten im Geschäft in größeren Flaschen den gleichen Schnaps und Wein. Auch wenn niemand zum Trinken gezwungen wird, könnte es der Marktbetreiber doch einfach unterlassen, diese »Verführer« kurz vor der Kasse aufzustellen.

Nudging statt Versuchung

Man kann argumentieren, dass Einflussnahme unvermeidlich ist. Es gibt Sachverhalte, die sich in unterschiedlicher, aber inhaltlich gleichbedeutender Weise ausdrücken (»framen«) lassen – zum Beispiel »Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 Prozent« versus »Ausfallwahrscheinlichkeit: 10 Prozent«. Warum sollte man dann nicht diejenige Version wählen, die gemäß Studien am ehesten zu einer wünschenswerten Entscheidung führt? Seit dem 2008 erschienenen Buch »Nudge« der US-amerikanischen Verhaltensökonomen Richard Thaler und Cass Sunstein hat der Einsatz von Manipulationstechniken dieser Art für gute Zwecke eine erhebliche Konjunktur erlebt. Typisch für Nudging (»Schubsen«) ist es etwa, wenn bei freien Entscheidungen, etwa zum Abschluss einer Betriebsrente oder für die Organspende, die gesellschaftlich erwünschtere Option die von vornherein ausgewählte ist. Niemand muss dann Organe spenden – es ist einfach nur so, dass jeder als Spender gilt, der sich nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat.

Allerdings setzt jeder einzelne »Nudge« voraus, dass man weiß, was als wünschenswert gilt. Dass man durch Schockbilder vom Rauchen »weggeschubst« werden darf, weil Rauchen so extrem die Gesundheit gefährdet, ist recht unumstritten. Doch schon die Beteiligung an der betrieblichen Altersvorsorge kann man kontroverser diskutieren. Hat irgendeine Institution die Legitimation, uns zu unserem vermeintlichen Gunsten zu manipulieren, und sei es auf noch so harmlose wie transparente Weise?

Die Bewertung von Verführung hängt letztlich immer davon ab, welche individuellen oder gesellschaftlichen Güter man für schützenswert hält. Das führt uns zum Anfang zurück: Dass etwa die Werbung einerseits als problematischer Verführer gilt, wir andererseits jedoch ständig dazu aufgefordert sind, uns verführen zu lassen, deutet darauf hin, dass Autonomie ebenso wie die Fähigkeit, sich – zum Zweck des Genusses – auch einmal fallen zu lassen, in unserer Gesellschaft gleichermaßen hochgehaltene Werte sind. Wir wollen willenlos sein können. Aber nur, wenn wir es wollen!

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